Das elfte Gebot
»Dass forthin zu keinem Bier mehr Stücke als allein Gersten, Hopfen und Wasser verwendet und gebraucht werden sollen.« Das sind sie, die entscheidenden Worte des Bayerischen Reinheitsgebots von 1516. Seit einem halben Jahrtausend haftet ihnen ein Nimbus der Unantastbarkeit an – nicht schlecht für eine Lebensmittelvorschrift. Vielleicht aber ist es an der Zeit, ihre Bedeutung zu überdenken.
Von Maximilian Stoib
Ochsengalle, Fingerhut und Bilsenkraut. – Mittelalterliche Brauer waren wahrlich nicht zimperlich, wenn es um die Zutaten für ihr Bier ging. Um die Wirkung des Alkohols zu verstärken und gleichzeitig möglichst billig brauen zu können, fand so einiges seinen Weg in den Braukessel, das heute wohl niemand mehr auch nur ansatzweise mit Bier in Verbindung bringen würde.
Der Hopfen als Geschmacksträger war im Mittelalter noch nicht weit verbreitet und obendrein teuer. Da behalf man sich eben mit allerlei anderen Kräutern und Zusätzen – Halluzinationen und Schlimmeres waren deshalb keine seltenen »Nebenwirkungen« des vor allem bei der einfachen Bevölkerung durchaus ausgeprägten Bierkonsums. Um dem entgegenzuwirken erließen die Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X. am 23. April des Jahres 1516 das bayerische Reinheitsgebot: »Ganz besonders wollen wir, dass forthin allenthalben in unseren Städten, Märkten und auf dem Lande zu keinem Bier mehr Stücke als allein Gersten, Hopfen und Wasser verwendet und gebraucht werden sollen.«
Der Begriff des »Reinheitsgebots« ist dabei allerdings eine Wortschöpfung aus dem 20. Jahrhundert, auch wenn Bierverordnungen schon ab dem Hochmittelalter, also lange vor 1516, aus vielen Städten in Bayern bekannt sind. Allein um der Gesundheit der Biertrinker willen wurden diese Verordnungen und später auch das Reinheitsgebot allerdings nicht erlassen. Wirtschaftliche Aspekte spielten dabei ebenso eine wichtige Rolle, denn die zum Brauen notwendige Gerste wurde von der Obrigkeit kräftig besteuert, andere Getreidesorten sollten der Nahrungsmittelproduktion vorbehalten bleiben.
Das Reinheitsgebot war Wirtschaftsfaktor und Qualitätssicherung in Einem
»Das Bier war in Bayern schon immer ein entscheidender Wirtschaftsfaktor«, sagt Dr. Manuel Trummer vom Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft der Universität Regensburg. »Über die Biersteuer konnte Bayern sich beispielsweise nach dem Dreißigjährigen Krieg relativ schnell sanieren.« Damit stellte das Reinheitsgebot eine überaus geschickte Gesetzgebung dar: Einerseits spülte es Geld in die Kassen der Landesherren, andererseits wurde damit die Qualität des Bieres tatsächlich erhöht.
»Das Reinheitsgebot hat der bayrischen Bierwirtschaft schnell zu einem rasanten Aufschwung verholfen. Spätestens im 19. Jahrhundert war sie die Angesehenste auf der ganzen Welt«, sagt er. Trummer setzt sich mit der Kulturgeschichte des Bieres auf wissenschaftlicher Ebene auseinander, für ihn ist der Gerstensaft weit mehr als nur ein Getränk: »Am Umgang der Menschen mit Bier lassen sich viele gesellschaftliche Entwicklungen darstellen.« Welches Bier wir trinken und zu welchen Gelegenheiten wir das tun, sagt eben ein Stück weit, wer wir sind und woher wir kommen.
Wohl nicht von ungefähr heißt es in einem Lied der niederbayrischen Band Haindling: »Bayern, des samma mia, Bayern und des bayrische Bier. Jawoi!« Das trifft den Nagel ziemlich genau auf den Kopf und zeigt, dass gerade die Bayern ein ganz besonderes Verhältnis zu ihrem Bier haben.
Den Ruf des Bieres bewahren – für den Bayerischen Brauerbund geht das nur mit Reinheitsgebot
Kein Wunder, dass das Reinheitsgebot heute als unumstößliches Diktum des Bayerischen Brauerbundes gilt: »Wir wahren und fördern den Ruf des Bieres und das Ansehen der bayerischen Brauwirtschaft. Bier ist das bayerische Volksgetränk, die Brauwirtschaft ist integrativer Bestandteil der bayerischen Kultur. Wir wollen diese herausragende Stellung festigen, indem wir uns für das Bayerische Reinheitsgebot von 1516 als Qualitätsmaßstab des Bieres und die Erhaltung der Einzigartigkeit der bayerischen Bierlandschaft einsetzen«, so beschreibt der Brauerbund die eigene Philosophie auf seiner Homepage.
Dabei gibt es diese 500-jährige Kontinuität, die dem Verbraucher oftmals suggeriert wird, eigentlich gar nicht: »So, wie es sich heute präsentiert, ist das Reinheitsgebot in erster Linie ein großer Mythos«, sagt Trummer. Das Reinheitsgebot verspricht dem Verbraucher ein hochwertiges, von jeglichen unnatürlichen Zusatzstoffen freies Naturprodukt. Genau das ist unser Bier aber in vielen Fällen nicht. So schön es klingen mag, sich auf ein 500-jähriges Gebot zu berufen, die heute verbindliche Gesetzgebung wird im Vorläufigen Biersteuergesetz von 1993 geregelt, und das erlaubt zum Beispiel auch den Einsatz von Zuckercouleur, um das Bier zu färben oder eine künstliche Filterung. Auch die Verwendung von Hopfenextrakt, welches ohne den Einsatz chemischer Mittel gar nicht gewonnen werden könnte, ist darin erlaubt. Von all dem bekommt der Verbraucher freilich nichts mit, ihm verspricht das Reinheitsgebot ein unberührtes, eben »reines« Bier, gleich von welcher Brauerei es auch kommen mag.
Deshalb muss der grundsätzliche Ansatz des Reinheitsgebots aber noch lange nichts Schlechtes sein: Nur aus den Grundstoffen Hopfen, Malz, Wasser und Hefe möglichst viele verschiedene, qualitativ hochwertige Biere herzustellen, sei für Brauer eine Herausforderung, aber es fördere durchaus deren Kreativität, so Trummer.
Was dabei herauskommt, wenn Bierbrauer sich jedoch nicht nur auf diese vier Zutaten beschränken, kann man in einem kleinen Geschäft nahe der Steinernen Brücke in Regensburg erleben. »birretta. Feinste Biere« nennt es sich, Martin Hoff hat es im vergangenen Mai zusammen mit drei Freunden eröffnet. »Aus Liebhaberei«, wie der 30-Jährige selbst sagt. Bei ihm findet man Biere, die seit einigen Jahren als »craft beer« bezeichnet werden und auch in Bayern immer mehr Anhänger finden: »Brewdog«, »Evil Twin« oder »Mikes Wanderlust« heißen die kleinen Brauereien, deren Biere bei birretta in langen Reihen auf hölzernen Regalen präsentiert werden, oft in auffällig bunt etikettierten Flaschen. Der Begriff »craft beer« meint dabei eigentlich nichts anderes als handwerklich gebraute Biere, also das Gegenteil von dem, was den Löwenanteil am insgesamt verkauften Bier ausmacht.
Knapp 80 Millionen Hektoliter wurden 2015 in Deutschland getrunken, fast ein Viertel davon allein in Bayern. Nicht gerade wenig, möchte man meinen, aber trotz dieser gewaltigen Menge ist der Bierkonsum hierzulande in den vergangen 30 Jahren rapide gesunken: Während in den 80er Jahren jeder Deutsche noch über 140 Liter im Jahr trank, sind es heute nur noch etwas mehr als 100. Unter diesem Einbruch leiden vor allem industrielle Großbrauereien. Ihre Biere seien zu austauschbar, es fehle ihnen an Kreativität, sagt Hoff. – Ist das Reinheitsgebot daran Schuld?
»Wir haben keinerlei Probleme mit dem Absatz«, sagt dagegen Thomas Neiswirth von Weltenburger, der ältesten Klosterbrauerei der Welt. Im Gegenteil: »2015 war unser erfolgreichstes Geschäftsjahr.« Auch die Weltenburger Klosterbrauerei legt großen Wert darauf zu betonen, dass ihre Biere handwerklich gebraut werden und keinesfalls industrielle Massenware sind. Auf die Jahrhunderte alte bayrische Brautradition legt man hier aber besonderen Wert.
»Genau darin liegt doch die Kunst«
Neiswirth kann die Kritik am Reinheitsgebot nicht ganz verstehen und hält eine Beschränkung auf die Grundzutaten Hopfen, Malz, Wasser und Hefe für sehr sinnvoll. Aus eben diesen Zutaten möglichst viel herauszuholen, darauf komme es seiner Meinung nach ja gerade an: »Genau darin liegt doch die Kunst, alles andere ist nur Brauen.«
Damit ist die Brauerei, trotz der vermeintlichen Schranken, die ihr das Reinheitsgebot auferlegt, offenbar auf dem richtigen Weg. »Erst vor wenigen Wochen wurde unser Weltenburger Asam-Bock zum zweiten Mal in Folge mit dem European Beerstar in Gold ausgezeichnet und gilt als der beste dunkle Doppelbock der Welt«, heißt es von Seiten der Brauerei. Im bayerischen Reinheitsgebot sieht sie dabei ihren Erfolg begründet: »Im In- und auch im Ausland sind unsere Klosterbiere stark nachgefragt. Eine elementare Grundlage für diesen Anklang ist das Bayerische Reinheitsgebot. Wir verwenden ausschließlich die vier natürlichen Zutaten Hopfen, Malz, Wasser und Hefe.«
»Das Reinheitsgebot ist leider ein Stück weit zum Marketing-Gag verkommen«, sagt dagegen Hoff. »Denn das Reinheitsgebot alleine ist ja noch keine Garantie für ein hochwertiges Produkt, es verhindert, dass in Bayern viele Bierstile gebraut werden können, die andernorts sehr gefragt sind.« Auch Trummer schließt sich dem an: »Es kann nicht sein, dass ein Reinheitsgebot verbietet Biere herzustellen, die nicht unter dieses Gebot fallen.« Nur weil auch andere Zutaten wie beispielsweise Koriander oder Salz beim Brauvorgang Verwendung fänden, sei das Bier ja noch lange nicht unrein. »Warum sollte zum Bespiel die Zugabe von hochwertigen Gewürzen oder Früchten einem Bier schaden?«, sagt Hoff. In Bayern gilt aber genau das: Hier dürfen solche Biere nicht gebraut werden.
»Wos da B(r)auer ned kennt, des frisst er ned«
Dass Biere, die nicht unter das Reinheitsgebot fallen und noch dazu aus dem Ausland kommen, bei vielen bayrischen Biertrinkern darüberhinaus zunächst einmal einen schweren Stand haben, ist für Trummer nicht schwer zu erklären: »Es gibt kaum einen Lebensbereich, bei dem der Mensch so konservativ ist wie bei der Ernährung«, sagt der Kulturwissenschaftler. – »Wos da Bauer ned kennt, des frisst er ned«, sagt dazu der bayrische Volksmund.
Dass das ganz besonders auf das Bier zutrifft, verwundert wohl niemanden – denn wie heißt es doch bei Haindling so schön: »Bayern und des Reinheitsgebot, des is unser flüssiges Brot« – so mancher ausländische Brauer schüttelt ob des restriktiven Reinheitsgebots in Bayern mittlerweile allerdings nurmehr den Kopf. Sollte man es daher vielleicht besser abschaffen? Nein, soweit würde Martin Hoff nicht gehen wollen: »Ich hätte überhaupt nichts dagegen bestimmte Bierstile weiter mit dem Reinheitsgebot zu bewerben, um zu zeigen, dass sie nur mit Hopfen, Malz, Wasser und Hefe gebraut werden. Aber der Begriff »Bier« sollte auch in Bayern für andere international anerkannte Bierstile geöffnet werden.«
Auch Dr. Manuel Trummer ist nicht der Ansicht, dass man vom Reinheitsgebot gänzlich ablassen sollte. Anpassen müsste man es seiner Meinung nach aber schon: »Wir brauchen ein ehrliches Reinheitsgebot. Es muss zu einem wirklichen Qualitätssiegel und einer Auszeichnung für naturbelassene Biere mit einer bestimmten Brautradition werden.«
Dann, so möchte man dem hinzufügen, ist das Bayrische Reinheitsgebot vielleicht auch dazu bereit die nächsten 500 Jahre zu überdauern.