Stories | Gulliver trifft Goya. Ein Traum

Stories | Gulliver trifft Goya. Ein Traum

Ich war gestrandet. Lauter kleine Drahtseile umspannten meinen Körper. Zudem war es kein Sand, sondern harte Kiesel drückten sich mir in die Wange, den Bauch, die Knie. Sogar jeder einzelne Finger war fixiert. Meinen Kopf und Hals fesselten gleich fünf Drahtschlingen. Sie waren eng gezurrt und schnitten mir ins Fleisch.

Doch zu diesen Schmerzen kam noch ein Kribbeln und Krabbeln auf meiner Haut hinzu. Zuerst dachte ich, es seien Ameisen, Insekten, die da ihr Unwesen trieben. Doch dann kletterte etwas meine Wange hoch, griff nach einer Wimper, um sich hochzuziehen, und nach einer Schmerzsekunde erkannte ich ein kleines menschliches Wesen. Der kleine Mann hatte einen alten Militärmantel an und trug kniehohe Schaftstiefel, mit denen er in meine Wange trat. Ich blinzelte und als er gerade nach dem Augenlid greifen wollte, riss die Wimper und er stürzte ab.

Schon rutschten weitere winzige Wesen meine Nase herunter und durchforsteten meine Haare. Auf meinem Rücken hatte sich eine ganze Legion niedergelassen, so schien es mir, auch hörte ich leise Stimmen und zu oft Worte wie „umbringen“, „Fleischberg“ und „schlachten“. Es ist schlimm, diesen Traum träume ich nun schon seit Wochen. Als es mir gut ging, habe ich das Szenario gezeichnet. Was für ein Selbstportrait!

Es schellt an der Türe. Man klingelt mich aus dem Bett. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie schrecklich meine Klingel brüllt, so lange war schon keiner mehr bei mir. Zögerlich öffne ich. „Guten Tag! Mir ist zu Ohren gekommen, hier lebe ein Künstler, der seine Träume male.“ „Woher wissen Sie das?“, frage ich den kleinen dicken Kerl mit schlohweißer Mähne und Schnauzer. Er trägt einen Geigenkoffer und einen schweren Jutesack. „Meine Quellen verrate ich nicht.“ Kurz darauf hat er es sich in meinem Sessel gemütlich gemacht. Er pult genüsslich in der Nase und fährt sich anschließend durchs Haar. In mir beginnt es auf einmal zu beben und angestaute Worte brechen aus meinem Mund. Ich erzähle ihm von meinem Traum und hole das Selbstportrait. Jetzt bohrt er im Ohr. Zögernd übergebe ich mein gefesseltes, betrampeltes Selbstbildnis in seine fettigen, schmutzigen Hände. „Ahja“, raunzt er. „Klarer Fall. Kennen Sie das Bild von Goya? Ich muss schon sagen, sehr anspruchsvoll Ihre Kunst. Und dann ist das ja auch Gulliver in Liliput.“  „Stimmt. Die Geschichte kenne ich, aber das Bild von Goya nicht.“ „Warten Sö mal. Ich habs hier.“ Ächzend zieht er einen dicken Folianten aus dem Sack und blättert darin. „Ahja, hier ist‘s.“ Ich sehe einen monströsen Kopf, mit schnellen Kohlestrichen skizziert, auf dem eine ganze Armee Strichmännchen herumkraxelt. „Goya in Ehren. Aber ihr Kopf ist der schönere.“ „Danke“, sage ich. Plötzlich breitet sich ein warmes Gefühl der Anerkennung in meinem Bauch aus.

„Nun machen wir ein Experiment. Legen Sie sich hin. Versetzen Sie sich mental wieder an den Strand. Die Kiesel drücken in Ihren Körper und Sie sind mit Drahtschlingen gefesselt. Die kleinen Menschen besetzen Sie.“ Er holt seine Geige hervor. „Bei jedem Bogenstrich löst sich nun eine Schlinge und Sie stehen langsam auf.“ Das Experiment funktioniert. Jeder scharfe hohe Ton der Violine zerschneidet eine Schlinge. Die Winzlinge lassen von mir ab. Ich bleibe liegen und auf einmal sind die Steine gar nicht mehr hart, sondern weich und bemoost.

Ich höre einen Schrei. Der Geiger ist über und über mit den Menschlein bedeckt. Sie hängen an seiner Mähne. Er schwankt schon und dann fällt er in sich zusammen. Zitternd erwache ich. Es ist dunkel. Ich bin allein.

 

Geschrieben von: Johannes Frank.

 

 

 

 

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