Stories | Eden oder der fallende Apfel
Der erste Zweifel fällt mit den bleiernen Tropfen der sternlosen Nacht auf die fruchtbare Ebene des östlichen Landes. Während das aufhellende Nass am Boden unnütz zerspringt, benetzt es die Früchte des einen Baumes mit flammendem Licht: das sündige Versprechen, die Dunkelheit des Verstandes zu erleuchten.
Der helle Schein lockt einen kriechenden Schatten aus seinem Versteck. Mit schlängelndem Drängen nähert er sich den nackten Ahnen des göttlichen Abbildes und zieht ihren Blick zu den lockenden Früchten des verbotenen Baumes, der gleichzeitig Leben und Tod, Gut und Böse, Mensch und Gott ist, alles Sein in sich vereint. Und die Schlange sagt zu den Menschen: „Dürft ihr nichts essen von den Bäumen des Gartens, in dem ihr lebt?“ „Von den Bäumen des Gartens, in dem wir leben, dürfen wir wohl essen, nur nicht von dem einen, der in der Mitte steht. Sonst müssen wir sterben, sagt Gott.“ Und da die Menschen den Tod fürchten, wagen sie es nicht, den Baum in der Mitte des Gartens, in dem sie leben, zu berühren. Und die Schlange sagt: „Wie könnt ihr den Tod fürchten, wo ihr doch unsterblich seid? Wie könnt ihr etwas fürchten, das ihr gar nicht kennt?“ „Wir wissen wohl, was der Tod ist“, sagt der Mensch, „der Tod ist das Ende.“ Und die Schlange sagt: „Wie könnt ihr das Ende fürchten, ist nicht die Endlosigkeit die größere Qual? Was ist ein Leben wert, wenn es ewig währt?“ Aber der Mensch versteht die Schlange nicht, weiß er doch nichts von der Unendlichkeit der Zeit. Und die Schlange sagt: „Wenn ihr von dem Baum in der Mitte des Gartens, in dem ihr lebt, esst, dann werdet ihr nicht sterben. Gott verbietet es euch, weil er weiß, dass ihr dann erkennt. Dann werdet ihr wie Gott sein.“ Aber der Mensch versteht die Schlange nicht, denn alles, was er kennt, ist Gottes Wort. Und der Mensch zweifelt nicht. Und die Schlange sagt: „Wenn ihr von dem Baum in der Mitte des Gartens, in dem ihr lebt, esst, dann werdet ihr frei sein zu erkennen, was Richtig und Falsch ist. Ihr werdet fähig sein, Schlüsse aus der Natur zu ziehen.“ Aber der Mensch versteht die Schlange nicht, ist die Natur selbst doch Gott und jeder Schluss aus ihr muss folglich Gott sein. Und die Schlange sagt: „Wenn die Natur selbst Gott ist, ist dann nicht auch der Baum in der Mitte des Gartens, in dem ihr lebt, Gott, so wie jeder andere Baum auch?“ Und der Mensch bejaht, dass auch der Baum in der Mitte des Gartens, in dem er lebt, Gott sei. Denn alles sei Gott. Und die Schlange sagt: „Versprach euch Gott nicht eben alles? Schuf er euch nicht nach seinem Abbilde, auf dass ihr gebietet über die ganze Erde? Und ist der Baum in der Mitte des Gartens, in dem ihr lebt, nicht Teil dieser Erde, über die ihr gebieten sollt?“ Und der Mensch bejaht, dass auch der Baum in der Mitte des Gartens, in dem er lebt, Teil der Erde sei, über die er nach Gottes Willen gebieten soll. Und die Schlange sagt: „Also ist es euer Recht, eure heilige Pflicht, über den Baum in der Mitte des Gartens, in dem ihr lebt, zu gebieten und die Früchte dieses Baumes zu essen.“ Und der Mensch bejaht, dass es seine heilige Pflicht sei, die Früchte vom Baum in der Mitte des Gartens, in dem er lebt, zu essen. Und die Schlange sagt: „Dann esset von dem Baum in der Mitte des Gartens, in dem ihr lebt, auf dass ihr erkennt.“
Und der Mensch macht sich auf zu dem Baum in der Mitte des Gartens, in dem er lebt. Und je näher er diesem Baum kommt, desto drängender wird das Verlangen, den Baum zu berühren, ihn zu umklammern, eins zu werden mit ihm, die Flucht in den Mutterschoß der Natur. Und die süßen Früchte des Baumes locken den Menschen, sich zu versündigen in der Schöpfung Gottes, dass er nach dem saftigen Apfel der Erkenntnis, der Unschuld seiner Selbst, greift und sie pflückend dem Ende zuführt. Und während sein gieriger Schlund im Begriff ist, die Wahrheit zu saugen, sich eigen zu machen, trifft den Menschen die volle Wucht des göttlichen Zorns, ein schüttelnder Krampf befällt seinen Körper, den zuckenden Fingern entgleitet die sündige Ernte. Und noch bevor die unreine Frucht auf dem öden baumlosen Boden der Verdammnis aufschlägt, erleben wir, in eben diesem fallenden Akt, Jahrhunderte später die Menschwerdung des größten aller Genies: Es werde Wissen.