Ganz großes Kino
Jeder kennt die angespannt-erwartungsvolle Stille, vor Konzerten, im Theater oder in einem vollbesetzten Kinosaal, kurz bevor die Vorstellung beginnt. Ist euch schon mal aufgefallen, dass diese Stille nur so lange anhält, bis derjenige Besucher sie durchbricht, der die geringste Toleranz gegenüber dieser Spannung und die größte Neigung zum nervösen Husten hat? Warten wir nicht sogar insgeheim darauf, dass die Anspannung sich in dieser, scheinbar von der in der Dunkelheit verborgenen Unsicherheit der zweihundert anderen Menschen im Raum hervorgerufenen, ursprünglichsten aller Übersprungsreaktionen entlädt?
In den vergangenen Tagen gab es fünfundsechzig Gelegenheiten, diese Phänomen zu beobachten, denn das Heimspiel, das Regensburger Filmfest, fand zum sechsten Mal statt. In vier Vorführungssälen in der Altstadt, dem Akademiesalon und Wintergarten im Andreasstadel, im Ostentorkino und der Filmgalerie im Leeren Beutel konnten sich Filmfans an nationalen und internationalen Werken aus vier verschiedenen Kategorien sattsehen, satthören, sattfühlen.
Am ersten Abend sitze ich, nachdem ich mich am Eingang des Ostentorkinos an einigen Parkas, Hornbrillen und letzten Zigaretten vorm Film vorbeigeschoben habe, umgeben von raschelnden Chipstüten und angeregten Flüsterunterhaltungen in meinem dunkelblauen Plüschsessel. Gespannt warten wir Besucher auf den Beginn des offiziellen Eröffnungsfilms des Festivals, „I Origins“. Schon der Titel wirkt nahezu symbolhaft, merke ich, als mir aufgeht, dass der Buchstabe „I“ als Homonym gemeint ist für das englische Wort „eye“ (dt. Auge). Ob gewollt oder nicht, steht der Titel damit sehr passend als „Augenöffner“ am Beginn des Heimspiel Filmfests.
Dann tritt Sascha Keilholz, der Festivalleiter, vor die Leinwand, um das Heimspiel offiziell zu eröffnen und uns die gesamte „Mannschaft“ vorzustellen: zusammen mit dem Veranstalter Medard Kammermeier, dem Betreiber des Kinos im Andreasstadel, und dem zwanzigköpfigen Organisationsteam des Lehrstuhls für Medienwissenschaft stellt er das Heimspiel Filmfest jedes Jahr auf die Beine.
Breites Spektrum an ästhetischen, gehaltvollen Filmen: “Das ist Festival!”
Als ich ihn im Vorabend des Eröffnungsfilms zum Gespräch im Andreasstadel treffe, finde ich mich zuerst umgeben von den Studenten, die das Heimspiel Filmfest organisieren.
Hier werden letzte Vorbereitungen getroffen, Anmoderationen ein letztes Mal vom zerknitterten Notizzettel eingeprägt, die nervöse Anspannung ist spürbar. Sascha Keilholz, der jedes Teammitglied persönlich begrüßt, ist es wichtig zu betonen, dass nicht er, sondern die Studenten Dreh- und Angelpunkt in der Entstehung und Organisation des Heimspiel Filmfests sind. „Als ich vor acht Jahren an die Uni hier in Regensburg kam, bemängelten die Studenten, dass das Spektrum der Filme, die es in den hiesigen Kinos zu sehen gab, zu klein war“, erklärt er. Aus Filmreihen, bei denen Klassiker und verschiedene Filme fernab vom Mainstream gezeigt wurden, entstand eine Idee Medard Kammermeiers: 2008 fand das erste Heimspiel Filmfest, zunächst nur mit deutschsprachigen Filmen, statt.
Seit dem dritten Jahr stehen neben den deutschen auch internationale Highlights und Specials mit unterschiedlichen Schwerpunkten auf dem Programm. Dank der Hartnäckigkeit der Studenten und dem renommierten Ruf des Heimspiels können jedes Jahr diverse Ehrengäste für das Festival gewonnen werden: so gibt es zusätzlich den den Filmen noch eine Werkschau bzw. Hommage an den jeweiligen Schauspieler, Regisseur oder Filmemacher. Auch die Auswahl der Filme liegt in der Hand der Studenten. Am Anfang des Prozesses steht die Sichtung der Line-ups aller grossen Filmfestivals des Jahres, zu denen das Team um Keilholz teilweise selbst fährt, um alle wichtigen Premieren vielversprechender Regisseure mitzuerleben. „In einem Jahr komme ich damit auf bis zu tausend Filme“, erklärt der Festivalleiter. Bei der Auswahl suchen die Studenten nicht nach Themen oder Inhalten aus, sondern legen vor allem darauf wert, Kinofilme für die grosse Leinwand zu finden, die Geschichten in großen Bildern zeigen und nicht nur für Filmexperten und Spartenspezialisten interessant sind. „Jeder Film muss eine Wirkungskraft haben, die formal, ästhetisch und inhaltlich überzeugt, gleichzeitig aber auch diskussionswürdig und nicht nur ‚wirklich nett‘ ist – das ist Festival“, fasst Keilholz zusammen.
Der Eröffnungsfilm überzeugt mit seiner Publikumstauglichkeit: ein bildgewaltiges und gleichzeitig philosophisch-berührendes Sci-Fi-Drama von Regisseur Mike Cahill, das einen lachen, weinen, schaudern und Lust auf mehr verspüren lässt. Dass ich mich gerade auf einem richtigen Festival befinde, wird mir aber erst so richtig klar, als Markus Förderer, der Kameramann des Films, die Bühne betritt. Ein sehr bescheiden wirkender, großgewachsener Mann, der einen faszinierenden Einblick in die Entstehungsgeschichte des eben gesehenen Werkes liefert. Schade nur für die vielen, die den Saal noch während des Abspannes verlassen hatten.
Zombie Zombie im Leeren Beutel, Mike Hodges und Ulrich Matthes im Gespräch
Auch sonst bietet das Heimspiel mehr als „nur“ Filmvorführungen: den Auftritt der französischen Band Zombie Zombie am Freitagabend im Leeren Beutel zum Beispiel. Unter dem Motto „Film meets Sound“ lässt sich das Techno- slash Rock- slash Elektro-Trio von Soundtracks bekannter Horrorfilme inspirieren. Desweiteren erlebenswert auch die beiden Ehrengäste, der Schauspieler Ullrich Matthes, der seine beiden Werke „Novemberkind“ und „Der neunte Tag“ in der Kategorie Hommage präsentiert und Mike Hodges, bekannter amerikanischer Regisseur von Kultklassikern wie „Get Carter“ oder „Flash Gordon“, der am Dienstag zum Gespräch eingeladen ist.
Sonntagabend, es ist kalt und nass – Regensburg im November eben. Gerade folgte die Kamera in Ulrich Seidls umstrittener Pseudodokumentation „Im Keller“ den dargestellten Personen nicht nur in ihre Keller, sondern in ihre tiefsten seelischen Abgründe. Der Leere Beutel ist voll, es werden neue Stühle herangeschafft, während sich meine Sitznachbarn darin überbieten, wie viele Filme sie sich in den vergangenen Tagen angesehen haben.
Wen es nach diesem geradezu voyeuristischen Werk noch nicht gruselt, jettet weiter in den Wintergarten des Andreasstadels. Hier interpretieren der Jazzdrummer Gerwin Eisenhauer und Pianist Walter Lang die begleitende Musik zum Stummfilmklassiker „Nosferatu“ von 1922. Die teils treibenden, teils fast unerträglich zarten, aber immer modernen Beats und Klänge, mit denen die beiden perfekt aufeinander abgestimmten Musiker das Gesehene umrahmen, passen überraschend gut zu dem noch heute weithin bekannten Film.
Wer die Vorführungssäle in Regensburg kennt, weiß: es ist intim, klein und meistens sehr plüschig. Werbung für das Heimspiel konnte in meinem Umfeld, trotz Radio- und Fernsehbeiträgen, eher weniger beobachtet werden, doch scheint dies den Besucherstrom nicht zu mindern. Um mich herum beobachte ich so manches Mal die angstvollen Gesichter der armen Platzlosen, die um ihr Abendvergnügen bangen und sich mit langem Hals nach den letzten freien Plätzen umsehen. Da ist das Improvisationstalent der Helfer gefordert – und ein bisschen Kuscheln mit den Sitznachbarn.
Heimspiel als Belohnung für achtmonatige Vorbereitung der Studenten
Auffällig ist die große Präsenz und Einsatzbereitschaft der Studierenden des Heimspiel-Teams, dessen Organisation als Kurs am Lehrstuhl für Medienwissenschaft angeboten wird. Das Team setzt sich jedes Jahr aus Neulingen und erfahrenen Mitgliedern zusammen. Zum Stützpunkt und Wohnzimmer des Filmfests entwickelt sich der Andreasstadel, wo man zu wahrscheinlich jeder Tageszeit die Studierenden in größerem oder kleinerem Kreis um einen Tisch versammelt antreffen kann. Die Atmosphäre ist familiär, Fragen und Verwirrungen werden immer freundlich und schnell geklärt. „Der Zusammenhalt im Team ist richtig gut“, findet Lukas Liska, der zum zweiten Mal beim Heimspiel mitwirkt. Er meint, dass einige aus der Gruppe bestimmt nach dem Festival „in ein richtiges Loch fallen“. Kein Wunder, nach acht Monaten Arbeit.
„Das Heimspiel ist dann die Belohnung für die lange Planungszeit“, sagt Jana Keifenheim, ebenfalls Mitglied im Team. Man merkt allen Mitwirkenden an, mit wie viel Stolz und Freude sie an „ihrem“ Festival arbeiten.
Langweilig wird es nie, obwohl ich mich nach Filmen wie „Das Zimmermädchen Lynn“ eher ratlos auf den Heimweg mache. Regisseur Ingo Haeb, der ebenfalls selbst vor Ort ist, warnt das Publikum schon vorab, dass der Film einige Fragen offen lasse, lässt aber auch von der Moderatorin des Abends, Jana Keifenheim, keine klärenden Antworten aus sich herauslocken.
Nach sieben Abenden erlesenster Kinounterhaltung habe ich viereckige Augen und einen plattgesessenen Hintern; ein bisschen müde machen so viele erhellende Stunden in der Dunkelheit, in der ein Eindruck den nächsten jagt. Zum Glück weiß ich, dass Kinohusten nicht ansteckend ist – trotzdem: das Heimspielvirus werde ich wohl so schnell nicht mehr los.