Auf der Suche nach Stille
Ständig sind wir von Geräuschen umgeben. Ein Redakteur versuchte, dem Rauschen zu entgehen und begab sich auf die Suche nach Stille.
Hörst du das? Ja genau, jetzt, in diesem Moment … was hörst du? Das Ticken einer Uhr? Gedämpfter Verkehrslärm? Oder Vogelgezwitscher? Oder ist da nichts? Also: Stille? Vermutlich nicht. Denn ständig sind wir von Lärm umgeben. Zumindest geht es mir so. Natürlich, wenn ich in der Bibliothek sitze, mit Ohrstöpseln, dann dringt kaum ein Geräusch von außen zu mir vor. Aber dafür sind all die inneren Geräusche, das eigene Schlucken, das Atmen unerhört laut. Also keine Stille.
Stille. Es gibt Begriffe, die immer schwerer zu fassen sind, je mehr man über sie nachdenkt. Stille ist definitiv einer davon. Denn es hat eine tiefere Bedeutung als bloß Ruhe. Und ich will es wissen. Was ist Stille?
Stille als Abwesenheit von Schall
Ich brauche einen Spezialisten. An der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg betreibt Manfred Zollner ein Elektroakustik-Labor. Akustik klingt gut. Akustik klingt nach Lärm. Akustik klingt nach Stille. Das Labor ist vollgestellt mit Lautsprechern, Verstärkern und Mischpulten.
Ich beginne mit einer direkten, und wie ich zu diesem Zeitpunkt noch annehme, sehr klugen Frage: »Was ist, aus physikalischer Sicht, Stille?« Ich erfahre, dass das nicht so einfach zu beantworten ist. Physikalisch ist Stille nicht definierbar, weil sie etwas Subjektives ist. Objektiv ist Stille die Abwesenheit von Schall, also der Schalldruck Null. Aber dieser Zustand ist auf der Erde, zumindest unter natürlichen Umständen, nicht vorhanden. Dafür müsste ich schon ins Vakuum, in den Weltraum zum Beispiel.
Doch Zollner ist auch Psychoakustiker, das heißt er beschäftigt sich mit der menschlichen Wahrnehmung von Geräuschen. Er erklärt mir, dass es tatsächlich näherungsweise eine Grenzbedingung für alle Menschen gibt, die sie subjektiv als Stille empfinden. Diese ist über die Ruhehörschwelle definiert. Sie gibt an, wie viel Schalldruck nötig ist, damit der Mensch gerade noch etwas hört. Das zeigt Zollner mir nun, denn er verfügt über einen reflektionsarmen oder schalltoten Raum. Dieser ist an den Wänden mit Keilen aus Glasfasern ausgestattet. Sie wandeln den Schall in Wärmeenergie um, schlucken ihn, und verhindern somit, dass die Wand ihn reflektiert. Dann kann nämlich der Schall, der von einer Geräuschquelle ausgeht, untersucht werden, ohne, dass der normalerweise vom Raum reflektierte Schall dazukommt und das Ergebnis verfälscht.
Als wir den Raum betreten, habe ich gleich einen merkwürdigen Druck in den Ohren. Ich fühle mich, als trüge ich Ohrstöpsel. Wenn Zollner mit mir spricht, und sich ein wenig von mir wegbewegt, dann klingt es gleich so, als stünde er im Nebenraum. »Fast alle Menschen haben diese Empfindung«, sagt Zollner und erzählt mir, dass einmal eine Frau sogar Kreislaufprobleme bekam, als sie den Raum betrat. Stille scheint nicht immer nur positiv zu sein. Es kann gleichzeitig auch etwas Ungewohntes sein, etwas Ängstigendes.
Äußere und innere Stille
An dieser praktischen Erfahrung mit Stille möchte ich anknüpfen. Ich stoße ich auf den Verein Dojo – Raum für Wegkunst und Stille in Regensburg. Hier werden unter anderem Meditations- und Yoga-Kurse und die Kampfkunst Aikido angeboten. Wie lässt sich das mit Stille verbinden?
Sara Seidl gründete den Verein im Jahr 2006. »Das Ziel des Vereins ist es, verschiedene Wegkünste, das heißt verschiedene Arten des Umgangs mit Stille in Einklang zu bringen«, sagt sie. Seidl unterscheidet zwischen äußerer und innerer Stille. Die äußere Stille ist demnach die Abwesenheit von Lärm. Aber eigentlich interessant ist die innere Stille. Es geht darum, dass der Geist still sein kann. Dann wird die Wahrnehmung nicht von Gedanken überlagert. »Das ist der Moment, von dem niemand mehr weiß, wie er es ausdrücken soll.« Seidl kennt diesen Zustand und fügt hinzu: »Es ist jedem Menschen möglich in Kontakt mit seiner inneren Stille zu kommen.«
»Versuche nicht, nicht zu denken«
Das probiere ich mit Zen-Meditation aus. Der Meditationsbereich ist ein kleiner Raum, auf dem Boden liegen zwei Reihen schwarzer Sitzkissen. Hier nehmen die Meditierenden Platz. Es sind Personen aus allen Altersschichten, die hier zusammenkommen. Ich setze mich mit gekreuzten Beinen, mit Blick zur Wand und soll die nächsten 25 Minuten so sitzen bleiben. Jemand schlägt eine Klangschale, die Meditation beginnt. Ich versuche mich an das zu erinnern, was Seidl mir vorher geraten hat: Beim Ausatmen bis zehn zählen, das ganze Wiederholen. Ich schließe die Augen. »Lass deine Gedanken einfach laufen! Versuche nicht, nicht zu denken. Das funktioniert nicht«, sagte Seidl. Und sie hat Recht. Ich denke. Ab und zu erinnere ich mich an das Zählen. Dann vergesse ich es wieder und denke. Irgendetwas.
Plötzlich zucke ich erschrocken zusammen: Da war gerade nichts. Da war ein Moment, in dem ich tatsächlich an nichts gedacht habe. Aber wie lange war das? Eine Sekunde, oder zwei? Jetzt bin ich abgelenkt! Also wieder Zählen.
Wie viel Zeit wohl schon vergangen ist? Vielleicht zehn bis fünfzehn Minuten. Aber tatsächlich habe ich jedes Gefühl dafür verloren. Ich muss die Sitzposition wechseln. Ganz langsam, darauf bedacht laute Bewegungen zu vermeiden. Dann ertönt die Klangschale erneut.
Hat Stille etwas mit Demut zu tun?
Wir gehen nach nebenan, in einen ausladenden Raum, der größtenteils mit Matten ausgelegt ist. Zeit für Aikido. Seidl begibt sich an ein Ende des Raumes, wir knien ihr in einer Reihe gegenüber. Es geht los mit Aufwärmübungen, erst Atem-, dann Bewegungsübungen.
Nun das eigentliche Training. Die einzelnen Übungen folgen immer dem gleichen Prinzip: Zwei Personen stehen sich gegenüber. Der eine greift an, der andere verteidigt. Dann wird gewechselt. Dabei sind die einzelnen Griffe und Schrittfolgen fest vorgegeben. Meine Partner gehen behutsam mit mir um. Immer wieder zeigen sie mir die richtigen Griffe. Doch es ist kompliziert, ich bin überfordert.
Während des Trainings liegt eine angenehme Stille in der Luft, wie Ehrfurcht. Man hört nur das Aufprallen der Körper auf den Matten, und die körperliche Anstrengung. Kaum habe ich eine Übung halbwegs verstanden, wechseln wir zur nächsten. Wieder dauert es, bis ich die Griffe begreife. Das sei normal, sagen meine Trainingspartner mir. Und dann, in einem kurzen Moment der Erkenntnis, frage ich mich: Hat Stille womöglich etwas mit Demut zu tun?
Nach dem Ende der Übungen frage ich Seidl erneut nach der Stille. »Während der Meditation konnte ich sie erahnen«, sage ich, »aber hier beim Training?« – »Du hattest keine Zeit, nachzudenken, oder?« Sie hat recht. Das ist es, was sie mit innerer Stille meinte.
Dies ist das Ende meiner Reise. Natürlich könnte ich noch mit weiteren Spezialisten über Stille sprechen. Mit Soziologen und Medizinern. Mit Künstlern und Philosophen. Doch ich habe bereits etwas wichtiges gelernt: Ich habe erfahren, dass Stille etwas Subjektives ist. Meist mit positiver Konnotation, aber eben nicht immer. Und mir wurde bewusst, wohin ich gehe, wenn ich Stille suche: in den Park. Enten beobachten.