Zurück
Durch das geöffnete Zugfenster trägt der Wind den frischen, herben Geruch des vorübergezogenen Gewitters herein. Einzelne verschwitzte Strähnen kleben in meinem Nacken, durch die staubigen Scheiben betrachte ich das goldene Halblicht, das die Rückkehr der Abendsonne ankündigt.
Wie Schmuck auf schwarzem Samt ruhen ihre Strahlen vor dem Hintergrund der dunklen, dicken Wolken. Die Müdigkeit will meine Augenlider zudrücken, doch ich kann keine Sekunde dieser Zugfahrt verpassen, die vorerst letzte nach so viel vergangener Zeit.
Beinahe schon zwanzig Stunden ist es her, dass ich die Tür zu dem kleinen, leeren Flur hinter mir zugezogen habe, mein Blick stahl sich eine letzte Erinnerung. Die Fenster dort waren mir immer wie Mauern erschienen, fast wäre ich erstickt in den einsamen Tagen dieser Wohnung. Dann war alles plötzlich erledigt gewesen: Die Schlüssel weg, ich betrat den ersten Zug und den schwersten meiner Koffer ließ ich am Bahnsteig zurück, wo er immer kleiner wurde – ein anklagender, ungeliebter Punkt in der Ferne.
In ihm steckten die vorwurfsvollen Worte, deren Klang ich mir erspart hatte, zu hören. Zwischen misstrauischen Blicken lag zusammengefaltet ein Kopfschütteln und ganz zuunterst mein Schuldgefühl. Vielleicht hatte ich es dorthin geschoben, um mir selbst seine Position in dieser Hierarchie der Unwichtigkeiten zu verdeutlichen.
Als der Zug die Grenze passierte, vibrierte mein Handy und eine SMS hieß mich willkommen. Ich nahm die SIM-Karte heraus, öffnete das Fenster einen kleinen Spalt und der Fahrtwind riss sie mir aus den Fingern, rannte damit davon wie ein Dieb, lachend über die bunte Bereicherung, die auf seinem unsichtbaren Kleid tanzte.
Manchmal muss man seine Träume einfach zerschlagen, um sie zu verwirklichen. Meistens offenbart sich im Kern das, was vorher von Illusionen ganz verschleiert gewesen war. Eingesperrt in Gedankenpalästen, die so schön waren, dass es einem Angst macht. Und wenn man es dann endlich wagt, an den vergoldeten Fassaden zu rütteln, wenn man zulässt, dass aus den Palästen nur noch Ruinen werden, entlarvt sich im Inneren das Ursprüngliche, das ganz Schlichte und Unverwüstliche, wonach wir uns eigentlich so gesehnt haben.
Wie ein Zugvogel habe ich Jahr für Jahr ein Ziel in jedem Abschnitt meines Erbguts getragen, ein rotes Kreuz auf der Landkarte der verzweigten Falten meines Gehirns. Meine Nervenbahnen waren nichts anderes als Straßennetze, die sich bis in den letzten Winkel meines Körpers wanden und ihn zwangen, eine bestimmte Richtung zu nehmen. Doch ich war ein Vogel in Gefangenschaft, meine Straßen hörten an Gitterstäben auf, meine Sehnsucht schürfte sich an ihnen die Hände wund. Es dauerte lange, bis ich verstand, woraus mein Käfig beschaffen war. Dass er in Wirklichkeit nur aus der Angst bestand, mein Verlangen könnte sich als lächerliche, von der Zeit und der Abwesenheit der Erfüllung genährte Leidenschaft entpuppen.
Und so ließ ich zu, dass die Tage die Sehnsucht vor mir auftürmten, bis sie riesenhaft vor mir stand, eine unerträgliche Gestalt, die mir den Blick auf alles andere versperrte. Wie eine stille, unsichtbare Krankheit schleppte ich sie überall hin mit, stand mit ihr auf und ging mit ihr schlafen und manchmal sahen die Leute mich forschend an und blickten dann neben mich, als könnten sie plötzlich sehen, was mich so stark und ungeduldig in eine andere Richtung ziehen wollte: Das wütende Wünschen, welches einen verächtlichen Blick auf alles und jeden warf und mich ständig fragte „warum bist du noch hier“, bis der Satz in meinen Ohren pulsierte
wie das Blut nach dem Erwachen aus einem Albtraum. Mit jeder verschwendeten Stunde wurde die Welt um mich herum hässlicher und meine Spiegel zeigten mir die graue, müde Person, die all ihre Versprechen gebrochen hatte.
„Ich komme zurück.“ Im Rausch eines einzigen, von Enttäuschungen zum Bersten gefüllten Moments schrieb ich eine Nachricht, die einen zu lang ignorierten Wunsch in die Banalität von Buchstaben fasste. Ohne, dass ich es geplant hatte, brach er sich Bahn, aus den Fingerspitzen heraus, wo die letzten Gassen der Straßennetze endeten. Unbemerkt war der Gedanke in mir umhergefahren wie ein eingesperrter Dschinn, dem Wahnsinn nahe. Als er schließlich den Weg aus dem Gefängnis meines Körpers fand, nahm er die Gestalt eines Wagens mit 200 Sachen an, dessen Kurs ich nicht ändern konnte und wollte.
Innerhalb von einer Woche war alles organisiert gewesen, alle Verbindungsstraßen zum alten, abgenutzten Leben waren zerstört, freigegeben für die kraftvolle Hand der Natur, die jeden möglichen Rückweg überwuchern und unkenntlich machen würde.
Nun trennt mich nur noch eine halbe Stunde von meinem Ziel. Der letzte Zug, in den ich umsteigen muss, riecht nach trockener Hitze und eingerissenen Plastiksitzen. Ich suche mir ein Fenster, bei dem mir kein Graffiti die Sicht nach draußen versperrt. Auf dem Sitz mir gegenüber sehe ich den gleißend blauen Zenit der fremd gewordenen Augen in einem fremd gewordenen Gesicht. Die Stimme dazu kann ich mir schon nicht mehr vergegenwärtigen. Die Entfernung, die zeitliche und die räumliche, haben die Stimme und was sie erzählte, verschwinden lassen. Der hässliche Finger der Zeit radierte sogar die kurze Berührung der Hand aus, deren Geste ich nur als Abschied kenne. Gehoben zu einem Gruß, und im Fallen lag Bedauern, vielleicht eine ungenutzte Dummheit. Vielleicht die Trauer darum, nicht mehr gewagt zu haben.
Als die Landschaft aufhört, vor meinen Augen vorbeizufließen, steige ich aus dem Zug. Die Hitze ist schon fast vollends wieder zurück und drückt sich in mein Gesicht wie ein Kissen, das mich ersticken will. Welle um Welle rollt ein Gefühl der Befreiung auf meine Augen zu, drängt sich in sie hinein, als würde mir jemand all meine sinnlosen Tränen gewaltsam wieder zurück geben. Denn die Stadt ist neu: An keiner Ecke hebt jemand die Hand zum Abschied, keine Straße flüstert „bleib, bitte bleib“, die Glocken schlagen nicht in Moll, weil ihr Klang mich auf unbestimmte Zeit entlassen muss, oder weil die Stadt mich nicht mehr kennt.
Ich bin wieder da und meine Anwesenheit zerschlägt den bösen Traum einer ungelebten Möglichkeit.
„Du bist also wirklich zurück.“ Ich drehe mich um. Lächelnd. Denn ich verstehe, dass ich die Stimme eigentlich nie vergessen habe.
Text von: Nadine Schneider
In der Schreibwerkstatt verfassen Studierende der Uni bei Professor Jürgen Daiber Kurzgeschichten und Prosa. Sie veröffentlichen Texte in der Lautschrift und tragen am Semesterende ihre Texte bei einer öffentlichen Lesung vor