Auf einen Schlag
Aufgelöst stand ich in der kühlen Nachtluft, die zitternden Hände krampfhaft um das Balkongeländer gekrallt und dachte über den vergangenen Abend nach. War ich wirklich so ein Mensch? Verbittert wanderte mein Blick von dem friedvollen Innenhof auf die geschwollene Rötung meiner rechten Handinnenfläche, nur um sich dann angewidert abzuwenden.
Ich hatte mich reizen lassen. Wie von selbst wanderte mein Griff zu der Zigarettenschachtel auf dem kleinen Beistelltisch. Ich zündete mir eine Zigarette an. Wahrscheinlich die sechste in der letzten halben Stunde. Ihr Rauch biss mir heiß in die klammen, vor Abscheu zusammengezogenen Lungenflügel. Ich hätte sie nicht schlagen dürfen… Erinnerungen krochen mir wie kaltes Entsetzen den Rücken hoch und legten sich wie eisige Finger um meinen Nacken, schnürten mir die Kehle zu, so dass ich stoßartig röchelnd die Luft einsog. Ich schmeckte Galle in meinem staubtrockenen Mund. Klar, ich stand in letzter Zeit ziemlich unter Druck und ja, es war nicht immer einfach mit ihr, aber das… Mein Magen krampfte sich plötzlich in einem ruckartigen Würgen zusammen und ich konnte gerade noch verhindern, einen schuldgetränkten Schwall Erbrochenes auf das traurige Pflaster drei Stockwerke unter mir zu schicken. Wie hatte es soweit kommen können? Ich liebte diese Frau. Natürlich stritten wir gelegentlich – eigentlich sogar ziemlich oft – warfen uns Dinge an den Kopf, die wir nicht meinten, nur um den anderen zu verletzen. Manchmal schlug sie mich und ich hielt sie fest, schubste sie zurück oder schrie sie an. Doch noch nie war mir die Hand ausgerutscht. Nicht so wie heute Abend. Ich schnippte die heruntergebrannte Zigarette übers Geländer und sah zu wie sie auf dem Weg durch die Schwärze der Nacht verglomm. Eine einsame Leere machte sich in mir breit. Ich hätte sie nicht schlagen dürfen… Wieder krallte ich mich in den kühl schweigenden Stahl der Balkonbrüstung, die Zähne so fest ineinander verbissen, dass mir die Kiefer schmerzten. Kalter Schweiß bildete einen Film auf meiner Haut, doch ich merkte es kaum. Unwillkürlich ließ ich die Faust in die rauverputzte Hauswand rauschen. Und dann noch einmal. Diesmal härter. Meine aufgerissenen Knöchel hinterließen blutige Spuren an der Körnung, die sich wie grausame Erinnerungen an die eigene Feigheit erbarmungslos durch meine Eingeweide fraßen. Wir hatten uns angeschrien, in Rage gebracht, gewütet, getobt. Im Geist gegenseitig hochgeschaukelt und in die Ecke gedrängt. Ein gnadenlos verbaler Schlagabtausch. Wie kann Liebe bloß zu einem Boxkampf ohne Gong werden? Ich war wie im Rausch gewesen. Ein wildes Tier, das an seinen Gitterstäben rüttelt. Ich hätte es nicht so weit kommen lassen dürfen… Sie hatte zuerst zugeschlagen. Aber sie war eine Frau… Manchmal vergaß ich, wie viel Kraft ich dagegen besaß. Es war nur ein Schlag gewesen, mit der flachen Hand. Aber es hatte genügt. Wieder flammte das Bild vor meinem inneren Auge auf, wie sie zusammengesunken am Boden gekauerte. Ihr überraschter, unversöhnlicher Gesichtsausdruck, die anschwellende Gesichtshälfte unter ihren zierlich zitternden Händen begrabend, hatte mich schnell zurück in die Wirklichkeit gerissen. Unaufhörlich sah ich es, wie unsere gemeinsame kleine Welt hinter blutunterlaufenen Augen zerbrach. Der schmerzhafteste Hieb von allen. Verbittert blickte ich auf meine Hände, als gehörten sie nicht mehr zu mir. Es tat mir so unendlich Leid, aber Reue würde es nun auch nicht mehr ungeschehen machen. Früher hatte ich mich oft geprügelt. Vor allem dann, wenn ich getrunken hatte. Aber das war lange her. Ich war damals noch ein anderer Mensch gewesen. Hatte ich zumindest gedacht. Die schwelende Wut war inzwischen verraucht und einem unbändig lodernden Selbsthass gewichen. Schonungslose Abfolgen von Szenen, die mir immer wieder vor Augen führten, was ich war. Ein bemitleidenswerter kleiner Wurm. Ein feiger Schwächling. Ein Frauenschläger. Die selbstgefällige Überheblichkeit meines eisernen Egos am Spiegel meiner Selbst zerbrochen und zu einem traurigen Häufchen Elend verkommen. Die kalten Steine, die mein verkümmertes Herz umschlossen hielten, hatten sich zu einem pechschwarzen Klumpen undurchdringlicher Scham verdichtet, der mich immer weiter in die Tiefe zog. Ich verdiente es wohl. Ich zündete eine Zigarette an und starrte in die einsame Nacht.
Text von: Niklas Reiter
In der Schreibwerkstatt verfassen Studierende der Uni bei Professor Jürgen Daiber Kurzgeschichten und Prosa. Sie veröffentlichen Texte in der Lautschrift und tragen am Semesterende ihre Texte bei einer öffentlichen Lesung vor.