Akt der Überwindung
Nochmal durchatmen: Unsere Autorinnen haben ganz persönliche Grenzen ausgetestet und tiefe Einblicke gewährt – mit unterschiedlichem Erfolg.
Kunstobjekt werden
Ein kleiner Zettel, schlecht kopiert, mit einer verschwischten Bezeichnung darauf: Damit hat es angefangen. Als ich im Nieselregen im Dunkeln vor diesem massiven Holztor stehe, wünsche ich mir kurz, dass ich ebendiesen Zettel nie gesehen hätte. Dann müsste ich mich jetzt nicht dazu überwinden, auf dieses verwinkelte Haus mit der großen Glasfront an einer Wand zuzugehen – denn natürlich, jetzt, kurz bevor ich diese bisher doch recht abstrakte Idee tatsächlich in die Tat umsetze, beschleichen mich leise Zweifel an der Vernünftigkeit meines Vorhabens.
»Nein, also, eigentlich ist es uns völlig egal, wie du aussiehst«, sagte dieser Typ noch am Tag vorher am Telefon mit leicht näselnder Stimme, kurz angebunden und nur zu gern bereit, mich sofort für den nächsten Tag zu verpThichten. »Du musst nur ruhig stehen – so zwanzig Minuten am Stück, kannste das?« Klar kann ich das, meinte ich.
»Aktmodelle gesuchtft« stand auf diesem Zettel am schwarzen Brett in der Mensa-Cafete, um den ich die vergangenen Wochen regelmäßig herumgeschlichen bin, unauffällig aufgehängt zwischen Wohnungsanzeigen, Jobinseraten und Angeboten von neuen Winterreifen. Meine Freunde waren sich einig: viel Überwindung nötig – im Moment genau das Richtige für mich. »Irgendwann rufe ich da an«, dachte ich mir. Wochenlang wägte ich ab, bis »irgendwann« schließlich gestern war.
Ich grüße leicht verunsichert
Und jetzt bin ich hier. Im Regen, natürlich viel zu früh, vor den Toren dieser Zeichenschule, in der ich gleich – ich weiß gar nicht vor wie vielen Leuten – sämtliche Hüllen fallen lassen werde, und rede mir selbst Mut zu. Immer noch zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit schaffe ich es dann schließlich, die schwere Eingangstür zum Atelier zu öffnen, der Raum dahinter strahlt wenig Einladendes aus: kahle Betonwände, zwei große Glasfronten mit offenen Jalousien, bröckeliger Betonboden und eine Gruppe Studenten, die eifrig damit beschäfigt ist, Staffeleien und Stühle kreisförmig um ein in der Mitte
aufgestelltes Podest anzuordnen. Ich grüße leicht verunsichert. Ein staubiger älterer Herr, offensichtlich der Zeichenlehrer, nimmt sich meiner an und stellt mich der Schar vor.
»Also da hinten ist die Garderobe, da können Sie sich ausziehen… Oh, haben Sie keinen Bademantel für den Weg dabei? Möchten Sie ein Handtuch?« – Ich zucke mit den Schultern. Auf meinen Einwand, ich werde jetzt lange genug nackt rumstehen, da werde ich die zehn Meter auch einfach so schaffen, reagiert er irritiert und stellt schließlich noch einen zweiten Heizstrahler neben das Podest. »Wir hören mal ein bisschen afrikanische Trommeln – dann müssen Sie alle bei dieser Musik immer ans Aktzeichnen denkenft« – Wieder zucke ich mit den Schultern. Auf die Art der Musik, auf die ich gleich konditioniert werde, kommt es mir ehrlich gesagt auch nicht mehr an.
Noch einmal atme ich tief durch, dann ziehe ich meine Klamotten aus und versuche, sie weitestmöglich vom dreckigen Boden entfernt zu lagern. Schon bin ich nackt vor einer Gruppe unterschiedlichster Menschen: zierlichen Kunststudentinnen, Damen in ihren Vierzigern, von denen eine eine seltsame und etwas verstörende Ähnlichkeit mit meiner Mutter aufweist, ein schweigsamer Mann, der zum Zeichnen eine Mütze aufsetzt, die er zum Sprechen aber abnimmt, und ein älterer, weißhaariger Herr im Strickpullunder, der eine Viertelstunde zu spät auftaucht und den ich von meiner erhöhten Position aus
höflich grüße.
Was dann folgt, ist weitaus weniger spektakulär, als ich dachte: hinsetzen, hinstellen, hinlegen – und, was für mich sehr überraschend kommt: keine Spur von Unwohlsein. Ich weiß nicht, was ich erwartet hätte – wertende Blicke, hochgezogene Augenbrauen, unverhohlenes Starren, eine Art Fleischbeschau wahrscheinlich. Doch nichts davon tritt ein.
»Machen wir noch fünf Minuten, kannst du noch?«
Ich stehe und frage mich, wie ich mich fühle – und die Antwort ist: nicht unangenehm oder bloßgestellt. In dem Moment, in dem ich einen Fuß auf dieses Podest gesetzt habe, habe ich mich in ein Kunstobjekt verwandelt und sämtliche Kategorien bezüglich Qualität oder Ausdruck meines Körpers einfach komplett hinter mir gelassen. Kunststudentinnen mustern mich und nehmen mit dem Bleistift und ausgestrecktem Arm Maß. Ich bin primär kein nackter Mensch mehr, sondern ein Objekt, das einen bestimmten Wert erfüllt – und das ist ein sehr angenehmes Gefühl. Position eine Viertelstunde halten – wechseln. Eine weitere Viertelstunde – wechseln. Eine Pause, um die bisher entstandenen Zeichnungen zu kommentieren und Verbesserungsvorschläge anzumerken, während der ich einfach unter lauter Angezogenen unbekleidet in der Runde stehe – und dann alles nochmal von vorne.
»Machen wir noch fünf Minuten, kannst du noch?« – »Öh, ja, also, ich mach ja eigentlich gar nichts!« Als der Kursleiter schließlich nach zwei Stunden die letzten Kohle- oder Bleistiftstriche ziehen lässt, unterhalte ich mich noch kurz mit den Studentinnen. »Boah, da muss man ja bestimmt voll mit sich im Reinen sein, um das als Modell durchziehen zu können. Kostet bestimmt extrem viel Überwindungft« Ich denke: Überwindung? Ehrlich gesagt nein. Sobald ich die Eingangstür passiert hatte, fühlte es sich komischerweise überhaupt nicht mehr so an, als hätte ich gerade irgendwelche Grenzen meiner Komfortzone überschritten – höchstens die Zone erweitert. Am Ende klemme ich mir schließlich die Zeichnung des Lehrers, die er mir nach begeistertem Bitten stirnrunzelnd überlässt, eingerollt unter den Arm und stapfe, zufrieden mit mir, hinaus in den Regen.
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Rückführen lassen
Immer wieder muss ich tief ein- und ausatmen. Ich liege auf einem großen Bett in einem abgedunkelten, fremden Raum. Warme Farben bestimmen das Zimmer und auf dem Fensterbrett steht eine Buddha-Figur. Ein überdimensionales Bild mit einem weißen Engel dominiert den Raum. Von Zeit zu Zeit fordert mich eine weiche Stimme neben mir auf, weiter zu atmen und will mich dabei unterstützen, indem sie selbst tiefe laute Atemzüge nimmt. Anstatt mich zu entspannen, ist mir das Szenario unangenehm. So muss es sich wohl anfühlen, wenn man vor der Entbindung mit der Hebamme Wehen wegatmet. »Du siehst nun ein Haus vor dir. Erzähl mir davon.« Eine Schlafbrille bedeckt jetzt meine Augen. Ich beschreibe ihr ein großes verlassenes Holzhaus mit vielen Fenstern. Ich schreite jedes einzelne Zimmer ab und schildere ihr das Mobiliar. Schließlich fordert mich die Stimme auf, in den Keller zu gehen und nach einer Türe zu suchen. »Jetzt öffne die Türe und gehe zurück durch Raum und Zeit!«
Sie will mein Vertrauen gewinnen
Langsam steigt Nervosität in mir auf. Die Stimme gehört Katrin Meilicke. Vorher hat sie mir direkt und unverblümt das Ziel einer solchen Rückführung genannt: »Die Rückführungstherapie ist Schattenarbeit. Es geht darum, den Finger in die Wunde zu legen.« Unterdrückte Persönlichkeitsmerkmale sollen dabei ans Licht kommen. Meilicke, zierlich, blonde kurze Haare, sitzt im Schneidersitz neben mir auf einer braunen Couch in ihrem Therapieraum. Sie erzählt über ihr Leben, ihren Ex-Mann, ihre Kinder. Sie will mein
Vertrauen gewinnen. Nach der Scheidung fiel sie in ein tiefes Loch und war deshalb
auf der Suche nach einer Therapieform, um wieder einen Sinn im Leben zu finden. »Ich wollte wissen, warum das gerade mir passiert? Warum ich?« Antworten auf ihre Fragen erhielt sie, als sie sich einer Reinkarnationstherapie unterzog und kurz darauf eine fünfjährige Ausbildung zur Therapeutin begann. Ihr Studium der evangelischen Theologie an der LMU brach sie ab. Obwohl der Begriff Wiedergeburt im Sinne einer Reinkarnation in der christlichen Theologie abgelehnt wird, sieht Meilicke keinen Widerspruch zwischen ihrem Glauben und der Therapieform: »Im frühen Christentum war Reinkarnation durchaus ein integraler Bestandteil.« Meilicke fährt fort, mir die Theorie der Rückführung näherzubringen, ich nicke verlogen, denn folgen kann ich ihr meistens nicht.
»Ich frage nie nach Ortsnamen«
Bei einigen Aussagen wird mir jedoch bewusst, dass ich mit falschen Erwartungen gekommen bin. Kurz vor dem Besuch habe ich mir ausgemalt, wie es wäre, Orte früherer Leben zu sehen, auf Spurensuche zu gehen, vielleicht im nächsten Urlaub dorthin zu fahren, wie dies o! in TV-Serien wie »Mein erstes Leben – Mich hat es schon einmal gegeben« suggeriert wird. Dabei geht es bei einer Rückführung aber nicht primär: »Ich frage meine Klienten
nie nach Ortsnamen. Es geht nicht darum, ob die früheren Leben wirklich existiert haben«, sagt Meilicke und streicht sich über ihre bunt bedruckte Plunderhose, »das Entscheidende ist, dass der Seele durch die Vorstellung, sich in einem früheren Leben einzufinden, die Möglichkeit gegeben wird, eine Kulisse aufzubauen, vor der der Klient sein Thema bildern
kann.« In dieser Kulisse lernt man innere Figuren kennen. Entweder man kann sich mit diesen identifizieren oder man lehnt sie komplett ab.
Auch Katharina hat mit diesen inneren Figuren schon Bekanntscha! gemacht. In den meisten Rückführungen vor allem mit einer: der Figur der Ehefrau. Katharina ist 27 und studiert an der Universität Regensburg Religion auf Lehramt. »Die ersten 15 Sitzungen waren ziemlich düster mit viel Gewalt. Meistens war ich mit Männern verheiratet, die furchtbar waren«, sagt die Studentin und legt beide Hände in ihren Schoß. »Ich war von mir selbst gelangweilt, weil ich immer das gleiche gesehen habe. Ich habe versucht, mir bessere Rollen auszudenken, aber das klappte nicht.« Diese Worte kommen nur sehr zögerlich über ihre Lippen und man merkt, dass sie nur ihren Eltern und engen Freunden von der Therapie erzählt hat.
Nach der Therapie ändert sich das Leben der Meisten
Die meisten Menschen, die bei Meilicke Hilfe suchen, leiden unter traumatischen Erlebnissen, psychischen Konflikten oder physischen Symptomen. Katharina entschied sich aus anderen Gründen eine Reinkarnationstherapie zu machen: »Ich hatte kein konkretes Problem. Ich stehe kurz vor dem Examen und wollte alles ins Reine bringen.« Nach 20 Sitzungen, 20 mal intensivem Atmen und 20 verschiedenen früheren Leben fühlt sich Katharina befreit: »Die Therapie hat mein Selbstwertgefühlt gestärkt. Ich mache mehr mein Ding.« Dabei hatte die Studentin nach der Häl!e der Therapie mehr Probleme als vorher: »Ich habe alles in Frage gestellt und wusste nicht mehr, wo hinten und vorne ist.« Die Konfrontation mit eigenen Verhaltensmustern und inneren Ängsten, die sich durch die Beschreibungen der früheren Leben als ein Muster herauskristallisieren, ändert das Leben fast aller Klienten. Auch Katharina trennte sich nach der Therapie von einigen ihrer Freunde: »Ich konnte mit manchen einfach nichts mehr anfangen.«
Das tiefe Ein-und Ausatmen scheint Wirkung zu zeigen, denn meine Arme und Beine fühlen sich plötzlich schwerelos an und beginnen zu kribbeln. Trotzdem bin ich bei vollem Bewusstsein, als ich Meilickes Fragen beantworte.
»Wo befindest du dich jetzt?«
Mit monotoner Stimme erzähle ich ihr von einem düsteren Raum mit einem Bild an der Wand. Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt zwei Personen, einen Mann und eine Frau. Ich identifiziere sie als meine Eltern.
»Was passiert jetzt?«
Ich muss mich konzentrieren, es strengt mich an, mir etwas vorzustellen, denn oft sehe ich einfach gar nichts. Dennoch fahre ich mit meiner Geschichte fort: »Ich nehme das Bild mit in ein anderes Haus. Ich wohne bei meiner Tante.«
»Warum?«, Meilicke versucht die Geschichte voranzutreiben.
»Meine Eltern sind tot. Sie sind in dem Haus verbrannt«, sage ich emotionslos.
Mit dem Bild des brennenden Hauses vor Augen, holt mich Meilicke mit sanfter Stimme zurück: »Du kannst deine Augen wieder aufmachen.« Ich verharre noch einige Sekunden liegend auf der Matratze und lass mich von der Meditationsmusik aus dem CD-Player berieseln. Ich fühle mich wie benebelt und frage mich, woher die Bilder kommen, die ich gerade noch klar und deutlich gesehen habe. Dennoch spüre ich keine Emotionen und keine persönliche Verbindung zu dem Erzählten. Meilicke merkt, dass ich mich nicht auf das
Gesehene einlassen kann: »Andere Klienten haben nach der Rückführung starke Gefühlsausbrüche und beginnen zu weinen.«
Bevor ich gehe, versucht sie meine Bilder zu deuten. Sie zieht dazu auch mein Sternzeichen und meinen Aszendenten zu Rat. Es fällt der Begriff Schuldgefühle und die Fragen werden immer persönlicher. Als ich das Haus verlasse, bin ich immer noch aufgewühlt, aber auch erleichtert. Denn die Schatten meiner Seele sollen ruhig dort bleiben, wo sie sind.
Michaela Schwinn studiert Englisch, Geschichte und Spanisch auf Lehramt. Für sie wird die erste Rückführung die letzte bleiben.
Monika Buchmeier (Germanistik und Amerikanistik) wird das Modellstehen dagegen weiter betreiben – als lukrativen Nebenjob.