stories | Karl-Uwe starb an einem sonnigen, heißen Freitag im Juli.
Nina wollte ihn hinten im Garten begraben, bei den zwei kleinen Birken, wo er so gern im Schatten gesessen und Klee gefressen hatte, aber ihre Eltern waren dagegen.
Ihre Schwester sagte: „Der gehört auf den Friedhof der Kuscheltiere“ und meinte den unheimlichen Platz auf der Lichtung im Wald, an dem zwischen anderen verstorbenen Spielgefährten schon Schnuffl, Speedy Gonzales und Elo die Ratte lagen.
„Wenn du ihn da eingräbst, lebt er ewig“, sagte ihre Schwester und drückte an einem Pickel auf ihrer Stirn herum. Nina fand das nicht lustig, weil ein Junge aus ihrer Klasse erzählt hatte, dass sein Wellensittich, den er letztes Jahr dort beerdigt hatte, seitdem nachts an seinem Fenster saß und zwitscherte, ganz schmutzig und mit leeren, toten Augen.
„Der labert doch Scheiße“, sagte ihr Bruder, während er Karl-Uwe in einen Schuhkarton packte.
Er ließ Ninas Hand den ganzen Weg bis in den Wald nicht los.
Ihre Schwester trug den Karton und summte irgendeinen Popsong, was Nina unpassend vorkam.
Im Wald war es kühl und einzelne Sonnenstrahlen schnitten wie Laserschwerter durch das Geäst. Der Boden fühlte sich moosig-weich an und Nina stellte sich vor, wie sie alle vier, Karl-Uwe eingeschlossen, in einer Grube aus Treibsand versinken und nie wieder auftauchen würden, aber nichts geschah.
Auf der Lichtung war es hell und warm und Ninas Bruder schwitzte, als er das Loch aushob. Die Haare unter seiner Baseballkappe waren nass, als er sie neben sich auf den Boden warf. Schweißperlen tropften von seiner Stirn in die kleine Grube.
Nina setzte sich ins Gras und sah in den Himmel, der hellblau über ihr schwebte. Luftige, kleine Schäfchenwolken sprangen im klaren Blau vorbei, als sei rein gar nichts geschehen. Ihr Bauch tat weh, ein tiefes Ziehen, das sie nicht kannte und das mit dem Verschwinden von Karl-Uwe zu tun haben musste. Ihre Schwester hatte ihr davon erzählt – wenn man jemanden sehr, sehr lieb hatte und er verließ einen, dann tat das weh. Das waren so richtig körperliche Schmerzen, hatte ihre Schwester behauptet und Nina hatte es nie verstanden, bis jetzt.
„So“, sagte ihr Bruder, stach die Schaufel neben dem Loch in den Boden und klopfte sich die Hände an seiner Hose ab.
Ninas Schwester, die ein paar gelbe und weiße Blumen gepflückt hatte, kam zurück und legte den Karton in die Vertiefung.
„Ruhe in Frieden, mein Kleiner“, sagte sie und streute ein paar Erdklumpen auf die Schachtel, die mit einem dumpfen Bums darauf landeten, als hätte ein dicker, großer Hund auf Karl-Uwe gekackt und Hunde hatte er überhaupt nicht leiden können. Nina spürte plötzlich, wie ihr etwas den Hals hinauf wanderte, ein enorm fetter Tränenklos, der sich nicht hinunterschlucken ließ.
Ihr Bruder legte den Arm um ihre Schulter. „Er war halt schon alt“, sagte er und Nina zog die Nase hoch und wischte sich über die Augen.
„Ich hab nur Bauchweh“, sagte sie. In den hellen Lichtstreifen zwischen den Bäumen segelten ein paar Pusteblumensamen herum, wie winzige Insekten mit Fallschirmen. Neben Karl-Uwes Mulde wuchs ein Büschel Löwenzahn und Nina dachte, dass ihm das gefallen hätte.
„Karl-Uwe, du warst ein tapferes und sehr freundliches Meerschweinchen“, sagte ihr Bruder, „wir werden dich nie vergessen.“
„Nie, niemals“, sagte Nina.
„Cheers“, sagte ihre Schwester und kratzte an einem neuen Pickel an ihrem Kinn.
Ihr Bruder schaufelte die Grube zu und Nina klopfte mit zitternden Fingern die Erde fest. Fast hoffte sie, er würde zurückkommen und unter ihrem Fenster quieken, es war ihr egal, ob er gruslige Augen hätte. Ihr Bauch schien vor Schmerzen fast zu brennen und sie kauerte sich vor die frische Erhebung und zog die Beine an.
Ein Marienkäfer krabbelte über ihre nackten Zehen, es kitzelte. Als sie versuchte, ihn auf ihren Zeigefinger klettern zu lassen, flog er davon.
Ihre Schwester legte den Blumenstrauß auf den neuen Hügel und ihr Bruder setzte sich seine Kappe wieder auf und fragte: „Was ist denn los, Kleine?“
Aber Nina schüttelte nur den Kopf, stand auf und lief mit zusammen gekniffenen Lippen über die Lichtung, zurück in den Wald. Sie wollte das Grab nicht sehen, nicht die anderen Gräber, kleine, verwachsene Hügelchen auf der Lichtung, manchmal mit schiefen Kreuzen oder bemalten Steinen darauf oder mit Murmeln umrandet.
Als Nina von der Lichtung in den Wald trat, kam ihr der Schatten dunkler, das Gehölz dichter, das Moos matschiger vor.
Ihr Bauch krampfte und etwas schien sich an ihrem Bein zu bewegen, warm und glitschig. Das musste die Liebe sein, dachte Nina, die aus ihrem Körper kroch und nichts zurückließ als ein schwarzes Loch, tiefe, schmerzende Leere. Die Sonnenstrahlen waren hinter Wolken verborgen und der Wald knackte und knirschte, von überallher schienen Geräusche zu kommen, zwitschernde Wellensittiche mit leblosen Augen. Nina griff nach der Hand ihres Bruders und war froh, als das Geäst hinter ihr lag und man das Haus sehen konnte, den Gartenzaun, das Trampolin und ihre Mutter, die auf der Terrasse lag und sich sonnte.
„Alter, Nina“, sagte ihre Schwester, die hinter ihr lief, plötzlich. „Deine Hose…“
Nina blieb stehen und blickte an sich herunter. Ihre beigen Shorts waren voller Blutflecken, die sich rot, fast braun über ihr Bein zogen.
Sie ließ die Hand ihres Bruders los und starrte ihre Schwester an. Die Sonne kam wieder hinter der Wolke hervor, die weiterzog und als Nina zurück in den Wald schaute, durchkreuzten Laserschwert-Strahlen das Dickicht, als sei rein gar nichts geschehen.
„Glückwunsch“, sagte ihre Schwester. „Jetzt bist du offiziell eine Frau.“
Von Kristina Pfister