Drückeberger
Unsere Autorin hat diesen Artikel drei Wochen nach Redaktionsschluss abgeliefert – nur um sich danach erstmal für drei Wochen in den Urlaub zu verabschieden. Über das Prokrastinieren, warum wir das Wichtige unter Druck ständig verschieben und was wir dagegen machen können.
Der Abgabetermin rückt näher und der Zeitdruck steigt. Der Laptop-Akku ist voll geladen, das leere Word-Dokument wartet nur darauf, gefüllt zu werden und der imaginäre Bleistift ist gespitzt. Noch schnell ein Blick auf Facebook, eben noch die E-Mails checken – und plötzlich macht sich der Maus-Cursor selbstständig! Es folgt eine Online-Odyssee von Social Networks über Shopping-Seiten bis zur neuesten Folge der Lieblingsserie. Der Nachmittag ist vorbei und die Arbeit noch immer nicht getan.
Dabei fängt es so harmlos an: Es gibt etwas zu tun, man schiebt es auf. Schon immer wird uns eingetrichtert: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Trotzdem kennt dieses Problem wohl jeder Student: Wir schieben auf, wir vertrösten andere und uns selber auf einen späteren Zeitpunkt und vergeuden unsere Zeit mit anderen Dingen, deren Nutzen und Notwendigkeit eher fragwürdig sind.
Hinter der Bezeichnung Prokrastination verbirgt sich eigentlich nur das Wort Aufschieben. Man spricht auch von Erledigungsblockade oder Handlungsaufschub. An der Universität Münster haben sich gleich mehrere Diplomandinnen mit dem Thema beschäftigt und festgestellt, dass Aufschieben nicht gleich Aufschieben bedeutet. Wir haben grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder wir unterbrechen unsere Arbeit immer und immer wieder, oder wir schaffen es erst gar nicht, damit zu beginnen.
Krankhaft oder stinknormal?
Prokrastination wird hier als komplexes und meist chronisches Verhaltensmuster bezeichnet. Neben alltäglichen Verpflichtungen wie Hausarbeit, Zahnarztbesuch oder Referatsvorbereitung kann das Aufschieben auch weitreichende Entscheidungen wie Umzug, Trennung oder Berufswahl betreffen. Klar: Die Grenze ist manchmal schwer zu erkennen. Spricht man in gewissen Fällen nun von einem krankhaften Aufschiebeverhalten oder von stinknormaler Faulheit?
Den Begriff ›krankhaft‹ sollte man im Zusammenhang mit Prokrastination eher vermeiden, erklärt Hubert Hofmann von der psychologisch-psychotherapeutischen Beratungsstelle der Universität Regensburg: »Streng genommen bezeichnet Prokrastination keine Krankheit, sondern ist
in einigen Fällen höchstens ein Symptom einer dahinterliegenden Störung.« Bedeutsam wird es dann, wenn es verhindert, dass wichtige Lebensziele erreicht werden. Leidensdruck, negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden oder die Gesundheit können entstehen. »Relevant ist Prokrastination auch dann, wenn der Betroffene die Situation ändern möchte, es aber nicht kann«, sagt Hofmann.
Ein Teufelskreis: Der Druck steigt immer weiter
Doch warum prokrastinieren meist Studenten oder Freiberufler? Genaue Auslöser könne man so nicht nennen, erklärt der Psychologe Hofmann. Die Einzelfälle seien vielfältig. »Erleichtert wird Prokrastination, wenn die Lernoder Arbeitsumwelt sehr viel Selbststeuerung verlangen oder wenn bestimmte Gefühle wie Angst, Langeweile, Ärger oder Hilflosigkeit gekoppelt sind«, sagt er. Der Student hat an sich viele Freiräume: die individuelle Stundenplangestaltung, keine Anwesenheitspflicht und meist die Möglichkeit, eben alles im nächsten Semester noch einmal zu versuchen.
Beobachten lässt sich oft ein Vermeidungsverhalten. Hier dient das Aufschieben unangenehmer Tätigkeiten der Emotionsregulation. »Ich habe Angst vor einer schwierigen Hausarbeit, also rede ich mir ein, noch Unmengen Zeit zu haben und nehme selbst den Druck von mir« – natürlich bin ich erleichtert. Es entstehen Wechselwirkungen, da es kurzfristig entlastend, fast belohnend und angenehm wirke, der Hausarbeit aus dem Weg zu gehen. Doch dabei entstehe ein Teufelskreis: Langfristig erhöht das Aufschieben den Druck und die unangenehmen Gefühle – bis wir vor einer Wahl stehen, sagt Hofmann: »Entweder werden nochmals alle Kräftemobilisiert und in heldenhaften Nachtschichten die Hausarbeit erledigt oder eben aufgegeben.«
Eine Universallösung kann Hofmann nicht anbieten. Doch er rät allen, die das Gefühl haben, dass sie ihrer »Aufschieberei« nicht mehr Herr werden können, sich Hilfe zu suchen. »Ich würde empfehlen, sich an eine der gebotenen Stellen der Universität zu wenden. Hier findet Lernund Schreibberatung sowie psychologische Beratung statt«, sagt er. In der Beratung werde eine individuelle Problemanalyse mit dem Ziel durchgeführt, daraus für die jeweilige Situation angemessene Lösungsstrategien zu entwickeln – von einfachen, ganz pragmatischen Ideen über selbstwirksamkeitsförderliche Interventionen oder Konfliktklärungen bis hin zu Therapieempfehlungen.
Wer von diesem Vorschlag nichts hält, dem sei die Idee des englischen Autors Paul Graham ans Herz gelegt: Er glaubt, es gebe gute und schlechte Prokrastination. Laut Graham soll man nicht fragen, wie man die Prokrastination unbedingt vermeidet, sondern wie man es schafft, auf gute Weise zu prokrastinieren. Diese produktive Form wäre dann möglich, wenn das, was man statt der eigentlichen Aufgabe tut, wichtiger ist als die eigentliche Aufgabe.
Also: lieber den nächsten großen Bestseller schreiben, statt die lästige Hausarbeit zu vollenden. Eine selbstputzende Küche erfinden, statt das Geschirr abzuwaschen. Die total innovative eigene Firma gründen, statt zur Post zu gehen. Aber vielleicht davor dann doch noch ganz kurz auf Facebook …
Text: Anna-Lena Deuerling, Foto: Pia Weishäupl
Der Text erschien in der „Unter-Druck“-Ausgabe.