stories | Die apokalyptischen Reiter
Die Mayas hatten den Zeitpunkt des Untergangs auf einen Tag bezogen, doch es ist die Schuld des Menschen, die den Augenblick bestimmt. Trotzdem waren sie bemerkenswert nah dran.
Ich sitze auf meinem ausgehungerten Ackergaul und warte. Ich bin bereit.
Da öffnet sich mit einem Donnern das mit alten Runen verzierte Tor. Krieg, der zweite Reiter, tritt selbstsicher herein. Sein muskulöser, vernarbter Körper hat den Harnisch der Jahrhunderte abgelegt und steckt in der Camouflage der chinesischen Armee.
„Ist alles aufgetankt?“, fragt er in texanisch besudeltem Englisch. Ich sammle den letzten, salzigen Tropfen Flüssigkeit und spucke ihm vor die Füße. Er hat die alten Werte vergessen und ich werde ihm das nie verzeihen. Er weiß das, ein Lächeln bildet sich um sein hässliches Gesicht. Er steigt in den roten Humvee. Auf der Seite der Fahrertür blickt einem ein großer, schwarzer Stier entgegen.
Das Warten geht weiter. Einst wussten die Menschen über uns Bescheid, malten und verehrten uns. Heute sind wir das Böse, die kriminelle Energie schlechthin. Doch ist glühender Stahl böse, der die Wunde ausbrennt? Ist Penicillin böse, weil es Millionen von Lebewesen vernichtet? Ich weiß es nicht, nur dass uns der EINE schickt. Wer kann IHM schon widersprechen?
Ist die Apokalypse gerecht? Ja, ist sie. Diese Welt hat definitiv einen Neuanfang verdient. Gilt das auch für die Menschheit? Nicht für jeden, aber das Leben ist nicht fair. Wir werden kommen und alle richten, Diktatoren wie Demokraten, Arme wie Reiche, Opfer wie Vergewaltiger. Jeder hat seine Lieblinge, deren er sich als erstes annehmen wird. Krieg brennt darauf, die letzten verbliebenen Hippies aus ihren verrosteten VW-Bussen zu hetzen. Ich hingegen nehme mir die Fetten vor, mit deren Körpern man ganze Dörfer ernähren könnte. Das wird ein Spaß.
Da öffnet sich das Tor abermals, diesmal geräuschlos. Tod schreitet herein, plötzlich und leise, wie es seinem Wesen entspricht. Der schwere Stoff des schwarzen Smokings verdeckt seinen Körper. Das Gesicht ist ein All ohne Sterne. Seine Hand, von der Last des Fleisches befreit, greift die Sense, als er auf sein fahles Ross steigt. Die silberne Schneide glänzt im diffusen Licht und das Siegel eines Adlers sticht hervor. Tod hat seinen eigenen Stil und konnte ihn über die Jahrtausende halten. Ich streichle über meine hervorquellenden Rippen und genieße den Auftritt.
Tod wird sich die Mörder holen und all jene, welche zu Unrecht bestimmt haben, wann der Faden anderer durchgeschnitten wird. Er wird seine leise Freude daran haben.
Nun fehlt noch ein Reiter. Das metrosexuelle Gesicht, das unter dem Mundschutz verschwindet, sowie den weißen Kittel verabscheue ich. Genauso wie sein arrogantes Auftreten mit der Löwenkrone auf dem Haupt. Pocken und eitrige Beulen hatten ihm besser gestanden. Er kommt immer zu spät und doch rechtzeitig, wenn es denn losgeht. Das Ziel seiner langsamen Rache sind die Pharmaunternehmen, deren Tresore überquellen, weil ihre Kunden immer noch leiden.
Das Warten geht weiter. Krieg trommelt ungeduldig auf dem metallischen Lenkrad. Ich kratze die juckende Tätowierung von da Vincis vitruvianischem Menschen auf meiner eingefallenen Wange und Tod bleibt ruhig.
Bald wird das Ende eingeläutet. Das Lamm wird die unzerstörbaren Siegel der Buchrolle brechen. Dann reiten wir los, Boten des Untergangs. Wir kennen die Menschen. Ihre Schwächen und ihre Stärken. Ihre Ängste und Hoffnungen. All die Sünden und Fehler ihres Seins liegen vor uns, deshalb werden wir ausreiten. Bald wird das Geheimnis des EINEN vollendet und dann macht euch eins klar: Ihr habt versagt!
Text: Reinhard Rund