„Hör auf zu bluten!“
Fabrik statt Hörsaal: ein 28-Tage Martyrium
Mir war sofort klar, dass es Probleme geben würde. Die Jogginghose, die doch die gestählten Oberschenkel nicht verbergen konnte, der strenge Zopf, der vor sehr langer Zeit einmal blond gewesen sein mochte und der Schraubstockgriff, mit dem sie mich an der Schulter packte: Ja, Helga war gefährlich. Und für die nächsten vier Wochen meine Chefin.
Meine Version des Kindertraums, nachts in einem Spielzeugladen eingeschlossen zu sein, erfüllte ich mir in den letzten Semesterferien, in denen ich einen Monat lang in einer Backformfabrik arbeitete. Hier flossen aber weder Milch und Honig, noch tanzten lustige Umpa Lumpas durch die Gegend, die mich zu einem Bad im Schokoladenwasserfall einladen wollten. Gut, was hatte ich erwartet, nachdem meine Bewerbung in dem heimatnahen Betrieb aus der Angabe meines Namens und meiner Schuhgröße bestanden hatte.
Die Sicherheitsschuhe, die mir später das ein oder andere Mal das Leben retten sollten, tausche ich am ersten Tag bei unserem Chef gegen meinen Stolz ein. Noch kann man mich und die anderen Ferienjob-Beginner von den müden Gestalten unterscheiden, die sich um sieben Uhr morgens an ihren Kaffeebechern festklammern und wohl schon mehrere Jahre hier in der Backformfabrik meines Vertrauens arbeiten. Denn wir lächeln. Noch. Der erste Auftrag mit dem verheißungsvollen Namen »clean easy« zerrt schon schwer an den Mundwinkeln. Erste Überläufer kristallisieren sich schnell heraus: »Ich glaub’, ich wechsel noch mal in die andere Fabrik – die, die Röntgenfolie herstellt. Gibt 14 Euro die Stunde, klar, die giftigen Dämpfe musst du halt einatmen…« Sechs Arbeitsschritte, die alle damit zu tun haben, 1400 Plastikbackformen zusammenzubauen, einzupacken, zu stapeln und ins Lager zu bringen, beschäftigen uns den ersten Acht-Stunden-Tag und lassen giftige Dämpfe verführerisch erscheinen.
Bei meinen ersten ungeschickten Versuchen, Pappungetüme in Kartons zu verwandeln, spüre ich schon den wachsamen Blick der Matrone, die sich später als Helga entpuppen sollte. Zuerst denke ich, es sind die 33 Grad Raumtemperatur, die mich ins Schwitzen bringen, aber nach dem ein oder anderen kehlkopflautartigen Befehl von Helga weiß ich: Es ist die nackte Angst. In den 30 Minuten Pause, die ich mit meinen Mitgefangenen in Freiheit verbringen darf, wird mir bestätigt: zu Recht. »Oh mein Gott, du bist in der Gruppe von Helga? Na dann viel Spaß, die sucht sich jedes Jahr die Studenten raus und macht sie fertig, bis sie weinen.« So sensibilisiert, versuche ich mich den Rest des Tages, an dem ich lerne, dass das Hubwagenfahren wohl das Spaßigste an meinem Job sein wird, in ihrem Schatten zu verstecken. Blöd nur, dass außer Helga nur Russinnen in meinem »Team« sind. Da sich meine Russischkenntnisse auf »Stalin«, »Wodka« und »Nastrovje« beschränken, bleibe ich den Rest des Tages stumm und beobachte den Haufen Mitfünfziger, der mit einer Geschwindigkeit Plastikteilchen in versandfertige »clean easys« verwandelt, dass einem schwindlig werden kann.
Am nächsten Tag das gleiche Spiel: Aufstehen um sechs, Arbeitsbeginn um sieben, Pause um zehn, das erlösende Geräusch der Werkssirene – Debussy, Liszt, Nirvana, schade, schade, ihr könnt alle einpacken, wer hätte nach Jahrhunderten Musikgeschichte gedacht, dass das schönste Geräusch kein Akkord einer ausgeklügelten Symphonie, sondern das knatschige Schrillen Ääääähhhh ist – und zuhause rehabilitieren. Meine Bewunderung wächst für die, die nach einem Acht-Stunden-Tag in der Fabrik – nachdem die Hände und Arme wundgeschürft, die Muskeln verspannt und die Fersen blau von ersten Hubwagenfahrversuchen sind – noch ein Sozialleben haben. Ich für meinen Teil krieche zuhause entweder ins Bett oder schlafe gleich, »pennerstyle«, im Garten ein. Vielleicht geht mal am Abend noch ein Bier mit ebenso arbeitsgeschädigten Freunden, aber mehr schon auch nicht. Die haben es sogar noch schlechter. Fürs Medizinstudium steht bei ihnen das Pflegepraktikum an, ergo: Junkies waschen, Dementen erklären, wo sie sind und im ewigen Kampf Arzt-Schwester ein Puffer sein. Plötzlich bin ich richtig dankbar für meine 6,89 Euro die Stunde: In Anbetracht eines unbezahlten Pflegepraktikums, bei dem die Betroffenen durch Anfahrtkosten quasi noch dafür bezahlen, Menschen waschen zu dürfen, erscheint der »Fuffi« am Tag wie pures Gold. Mein Mantra ist darum: Du machst das nur fürs Geld.
Überhaupt rechne ich viel während meiner arbeitsreichen Semesterferien: noch sechs Paletten bis zur Pause, noch drei Tage bis zum Wochenende, noch 24 000 Vanillekipferlformen für Lidl. In den folgenden Wochen schrumpft mein Wortschatz daher auf Schlagwörter wie »Stückzahl«, »Palette«, «Pause«, »Kaffee«, »Vanillekipferlblech« und immer wieder: »Marjellchen!« Am Anfang gefällt mir diese Anrede noch, die mich doch immerhin im Russenregime zu mehr macht als »833«, »Muschduschnellermachen« und »Haschduschon?« Mit zunehmendem Gebrauch jedoch erinnert mich »Marjellchen« nicht länger an die gelegentlichen Ostpreußenphasen meines Großvaters – kein bisschen zärtlich kommt das Wort nämlich heraus. »Marjellchen« heißt einfach nur so viel wie »Oh nein, Mädel, was hast du da schon wieder angerichtet« und unvermeidlich folgt daraufhin: »Muschduschnellermachen.«
Die Abgestumpftheit, die nach Wochen gleicher Handgriffe den Galgenhumor ersetzt hat, wird mein Schutzpanzer gegen Russenflüche und Lästereien, denen man unweigerlich ausgesetzt ist. Schon allein wegen meines einzigen Freundes, den ich im Gegensatz zu den meisten hier – kein Scherz – dem Alkohol vorziehe: mein MP3-Player. Zuallererst nur dazu da, um meine Aggressivität mit Hip-Hop-Tunes zu untermalen, werden er und meine Hörbücher schließlich ein Instrument gegen die Verdummung. IQ-mäßig, würde ich sagen, komme ich am Ende der vier Wochen wieder auf null raus. Helga gefällt meine innere Emigration gar nicht – vor allem, da ich ihren Befehlen wie »Geh zur Traude und hol die Form, die links im ersten Lager steht« nicht schnell genug folge. Klar, das muss natürlich am MP3-Player liegen und nicht daran, dass Traude im Urlaub ist und die Form im zweiten Lager rechts steht.
Das Highlight im kalten Krieg zwischen Helga und mir war eindeutig der Moment, in dem eine zu scharf geratene Emaillespringform den einzig klaren Befehl, den ich in 28 Tagen Fabrik-Arbeit erhalte, auslöst: »Hör auf zu bluten!« Ich beschließe, mich unter dem Schutzmantel der Leiharbeiterin Patrizia zu verstecken. Die hat vier Kinder und Courage, außerdem schwäbelt sie sympathisch: »Mei Mädle, lass der doch von der nix sage, die hat bestimmt kein Moi dahoim.«
Oh, oh, da kommt auch schon der Chef und wir haben uns der Anweisung Helgas, »Macht jetzt Pause und wenn der Chef kommt, seht beschäftigt aus«, widersetzt. Daraufhin folgt meine Strafversetzung ans Band. Der Handgriff sitzt nach drei Minuten, ich weiß, wenn ich mir die Damen um mich herum so anschaue, wieder warum ich studiere – aber nicht mehr, wieso zur Hölle ich mich für die brotlose Kunst Germanistik entschieden habe. Eine Woche lang führen die silberne Kastenform und ich eine innige Beziehung, denn ich stelle fest: Nachdem mein Gehirn mit dem Schnellzug die Stadt verlassen hat, versinke ich in angenehm wattigem Vergessen, das durch das monotone Stampfen der Maschinen untermalt wird. Außerdem habe ich hier eine neue Chefin, deren gepflegtes Auftreten mich daran erinnert, dass ich ein Mensch bin. In der Stanzerei wird nicht gelästert – es ist viel zu laut. Dafür ist die Sehnenscheidenentzündung nach sieben Tagen Nehmen, Drehen, Etikett-Kleben und Stapeln vorprogrammiert. Gejammert wird hier auch nicht, denn, so Katrin: »Muschdu dich nit aufregen, in Spritzerei ise viel schlimmer. Farbe stinkt, wenn ich arbeite da, ich kotze jede Tag!«
So weit weg von Hass-Helga und so nah an Weihnachten: Wenn die Maschine spinnt, geht’s nämlich ans »Plätzchenausstecherle«-Einpacken. Welcher verrückte Werbetexter auch immer auf die Idee gekommen ist, die Teile »Freunde« zu nennen, hatte einen Sinn für Ironie – meine Freunde werden die scharfkantigen Dinger bestimmt niemals werden. Am letzten Arbeitstag überfällt mich eine gewisse Euphorie: Ich kann mir nach vier Wochen jetzt ungefähr 1000 Kaffee in der PT-Cafete leisten – oder zwei Semester Studiengebühren.
Zur Feier des Tages bin ich zum Essen verabredet und ziehe mich noch schnell um, eine Frisur ist heute sogar auch drin. Auf dem Gang grüßt mich plötzlich niemand mehr, verwunderte Blicke. »Die Blume im Misthaufen«, sagt eine Mitgefangene. Katrin muss auch zweimal hinschauen: »Ich hab’ dich gar nit erkannt. Heute ise letzter Tag? Gehschdu jetz wieder studieren? Muschdu immer brav lernen, damit du nicht machen muschd so Scheißarbeit wie ich…«
Text und Foto: Marlene Fleißig