D urch die Fenster mit den weißen Seidenvorhängen fällt das Abendlicht ins geräumige Wohnzimmer. Bücherwände zu beiden Seiten. Eine altehrwürdige Standuhr aus dunklem Holz auf dem Parkettboden. Draußen hat der heftige Platzregen die Vorgärten in ein sattes Grün getaucht. Vom Berliner Großstadtrummel ist im Stadtteil Lankwitz nichts zu spüren: Villen hinter verwucherten Hecken, üppige Rhododendronbüsche, Gutbürgerlichkeit.
Hohe Hecken, schöne Villen: Im gutbürgerlichen Berlin Lankwitz wohnt der »rote Jonny« heute. (Foto:Geier)
»Ich war ein Agitator, radikaler als andere Studenten«, sagt Johannes Münder und fährt mit der Hand durch sein lichtes Haupthaar. Der schmale Mann mit der randlosen Brille sitzt mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem beigen Ledersofa. Aus dem drahtigen Gesicht blicken hellwache, eisblaue Augen. Von 1968 bis 1974 studierte der heute 68-Jährige in Regensburg Jura und Soziologie. Jeder kannte ihn. Der »rote Jonny« gab in der Regensburger Hochschulpolitik den Ton an – als Rädelsführer, Rednertalent, Revoluzzer.
Ende der 60er. Der Akademische Senat tagt im Sammelgebäude. Eine Entscheidung empört die Regensburger Studierenden. Einer schlägt vor, aus Protest im »berühmten rechtsseitigen Hinkegang« zum Sitzungssaal zu laufen. Der Gag zieht. Die Kommilitonen sind mobilisiert. Die Treppe vor dem Saal wird kurzerhand besetzt. Als einer der Professoren herauskommen will, legen sich die Studenten auf den Boden. Einer schreit: »Jetzt sieht man, wie die Professoren nicht nur das Recht, sondern auch die Studenten selbst mit den Füßen treten.« Münder agitiert mit dem Megaphon. Der Professor schäumt vor Wut, stürmt auf Münder zu und packt ihn. Der bleibt unbeeindruckt: »Schlag zu, aber dann kriegst du eine zurück!« Münder grinst jetzt spitzbübisch, als er die Geschichte erzählt. »Wär’ natürlich ideal gewesen, wenn der zugeschlagen hätte.«
Johannes Münder war in Regensburg der »rote Jonny«. (Foto: Geier)
Der rote Jonny wird observiert
Gedämpfte Geigenklänge dringen ins Wohnzimmer in Berlin-Lankwitz. Münders Ehefrau spielt im oberen Stockwerk. Unten hat die Klassik-Sammlung die Jimi-Hendrix-Platten längst aus dem Regal verdrängt. Münder hat eine bürgerliche Karriere hingelegt: Lehrstuhlinhaber für Sozial- und Zivilrecht an der TU Berlin, Vorstandsvorsitzender von SOS-Kinderdorf, Bundesverdienstkreuzträger. Am Tag vor dem Gespräch hat er Angela Merkel getroffen. Dabei schien ihm seine Vergangenheit schon zum Verhängnis zu werden: In den frühen 70ern sorgten Bund und Länder mit dem Radikalenerlass dafür, dass auffällig linksorientierten Zeitgenossen durch Berufsverbote eine Karriere im öffentlichen Dienst versagt blieb. Auch der rote Jonny war ins Visier des Verfassungsschutzes geraten: Münder wurde observiert, mit Anzeigen wie Hausfriedensbruch oder Nötigung überzogen und von einer juristischen Beamtenlaufbahn ferngehalten. Der Grund: seine »politischen Umtriebe« im Regensburger Hochschulbetrieb. Für den Staat war der Kirchenratssohn ein Linksradikaler.
Wer die Pille braucht, muss zum AStA
»Es war ein sehr politisches Klima, der Mainstream war Aktivität, war Engagement«, sagt Münder und lehnt sich auf dem Sofa zurück. Die hölzerne Standuhr verkündet mit klarem Klang die volle Stunde. Münder ist damals Vorsitzender des Sozialistischen Hochschulbundes und das Gesicht der Regensburger SPD. In seiner politischen Orientierung ist er vor allem ein Kind seiner Zeit: Die Jugend rebelliert gegen verkrustete Strukturen in Gesellschaft und Politik, gegen konservative Autoritäten und rechtes Gedankengut. Die schrille Musik der 68er-Bewegung spielt in Frankfurt oder Berlin, wo Leute wie Rudi Dutschke die erste Geige spielen. In Regensburg ist die Bühne provinzieller, der Beat verspielter, aber der Gesang von ähnlicher Inbrunst und Bissigkeit.
An der Uni sind damals alle Immatrikulierten automatisch Teil der Verfassten Studentenschaft. Die Studierenden wählen ein Parlament, aus dem der eigentliche Hauptakteur des studentischen Kleinstaats hervorgeht – der Allgemeine Studentenausschuss, bekannt als AStA. Im Vergleich zum heutigen SprecherInnenrat hat dieses Kabinett vor allem einen entscheidenden Machtvorteil: die Finanzhoheit. Jeder Studierende überweist pro Semester etwa zwölf DM an den AStA, der mit dem Gesamtbudget kulturelle und politische Veranstaltungen organisiert oder einen Härtefonds für in Not geratene Studenten einrichtet.
Im studentischen Alltag ist der AStA ein Fixstern. 1960 kommt die Antibabypille auf den Markt. Studentinnen in Regensburg müssen zur Referentin für Soziales, die die Adresse von den zwei, drei Ärzten besitzt, die es wagen, in der stockkonservativen Stadt die Pille zu verschreiben. Münder, der eine Zeit lang als stellvertretender AStA-Chef amtierte, erinnert sich an die überraschten Gesichter der Studenten, die aus Berlin oder München stammten: »Das war topsecret, die Adressen wurden nicht mal den anderen AStAMitgliedern verraten.« Geheimnisverhütung im Regensburg der 60er.
Johannes Münder erzählt eine Anekdote über die familiäre Atmosphäre an der noch kleinen Universität Regensburg in den späten 60ern
Um das chronisch magere Budget zu füttern, lockt der AStA einmal mit Pornostreifen im Auditorium. Der Hörsaal platzt aus allen Nähten: Sex sells. »Das Thema war natürlich ein anderes, ‚Sexualität und Gewalt‘, hinterher große Diskussion darüber. Aber die meisten sind wegen der Pornofilme gekommen«, sagt Münder und muss grinsen. Für ihn gibt es hernach weniger zu lachen. Die Regensburger Woche titelt plakativ: »Pfarrerssohn zeigt Pornofilme«. Münder rennt ins Gericht, um das Erscheinen mit einer einstweiligen Anordnung zu verhindern.
»Autoritäre Säcke!«
Neben nackter Haut elektrisiert die jungen Leute auch der Umgang mit der Nazi-Vergangenheit. Münder hatte selbst einen Onkel, den er als »richtigen alten Nazi« bezeichnet. »Das waren autoritäre Säcke, zu diskutieren war aussichtslos. Meinen Bruder und mich hat er einmal rausgeschmissen, weil wir ihm widersprochen haben.« Eine repräsentative Meinungsumfrage aus dem Jahr 1968 führt die Bipolarität der deutschen Gesellschaft eindrucksvoll vor Augen: Noch immer die Hälfte der Bevölkerung ist damals der Ansicht, der Nationalsozialismus sei eine »an sich gute Idee« gewesen, die »nur schlecht ausgeführt« wurde. 91 Prozent der Studenten lehnen diese These dagegen entschieden ab.
Umso überraschender erscheint ein Vorfall, der sich an der Regensburger Uni im Juli 1969 ereignet. Die gemäßigte Gruppierung Demokratische Mitte hatte die AStA-Wahlen gewonnen, weil die Linken nicht kandidiert hatten. Auch die Mittelbayerische Zeitung interessierte sich damals für den ungewöhnlichen AStA und stellte die Studenten auf einem Bild vor. AStA-Chef Felix Bergenthal will die unterschiedlichen politischen Flügel an der Uni versöhnen. In einer politischen Veranstaltungsreihe sollen Vertreter aller Parteien zu Wort kommen. Als zum ersten Vortrag allerdings der NPD-Fraktionsvorsitzende Siegfried Pöhlmann eingeladen wird, rappelt es in der Kiste: »Das war für uns natürlich unvorstellbar. Wir haben sofort entschieden: Der wird hier nicht sprechen«, erzählt Münder.