Es rappelt in der grauen Kiste

Professoren mit Schlägertrupps, Proteste im Hinkegang und Pornos im Auditorium: Die junge Regensburger Uni kommt früh in die Pubertät. Einen der Studenten, die die Marschrichtung vorgaben, hat die Lautschrift in Berlin getroffen.

Ein Streifzug durch turbulente Zeiten.

1969: Das Foto aus der Mittelbayerischen Zeitung zeigt, wie Studenten das Rednerpult in einem Hörsaal an der Uni Regensburg besetzen. Der NPD-Politiker Siegfried Pöhlmann kapituliert. (Quelle: MZ vom 15. Juli 1990)

D urch die Fenster mit den weißen Seidenvorhängen fällt das Abendlicht ins geräumige Wohnzimmer. Bücherwände zu beiden Seiten. Eine altehrwürdige Standuhr aus dunklem Holz auf dem Parkettboden. Draußen hat der heftige Platzregen die Vorgärten in ein sattes Grün getaucht. Vom Berliner Großstadtrummel ist im Stadtteil Lankwitz nichts zu spüren: Villen hinter verwucherten Hecken, üppige Rhododendronbüsche, Gutbürgerlichkeit.


Hohe Hecken, schöne Villen: Im gutbürgerlichen Berlin Lankwitz wohnt der »rote Jonny« heute. (Foto:Geier)

»Ich war ein Agitator, radikaler als andere Studenten«, sagt Johannes Münder und fährt mit der Hand durch sein lichtes Haupthaar. Der schmale Mann mit der randlosen Brille sitzt mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem beigen Ledersofa. Aus dem drahtigen Gesicht blicken hellwache, eisblaue Augen. Von 1968 bis 1974 studierte der heute 68-Jährige in Regensburg Jura und Soziologie. Jeder kannte ihn. Der »rote Jonny« gab in der Regensburger Hochschulpolitik den Ton an – als Rädelsführer, Rednertalent, Revoluzzer.

Ende der 60er. Der Akademische Senat tagt im Sammelgebäude. Eine Entscheidung empört die Regensburger Studierenden. Einer schlägt vor, aus Protest im »berühmten rechtsseitigen Hinkegang« zum Sitzungssaal zu laufen. Der Gag zieht. Die Kommilitonen sind mobilisiert. Die Treppe vor dem Saal wird kurzerhand besetzt. Als einer der Professoren herauskommen will, legen sich die Studenten auf den Boden. Einer schreit: »Jetzt sieht man, wie die Professoren nicht nur das Recht, sondern auch die Studenten selbst mit den Füßen treten.« Münder agitiert mit dem Megaphon. Der Professor schäumt vor Wut, stürmt auf Münder zu und packt ihn. Der bleibt unbeeindruckt: »Schlag zu, aber dann kriegst du eine zurück!« Münder grinst jetzt spitzbübisch, als er die Geschichte erzählt. »Wär’ natürlich ideal gewesen, wenn der zugeschlagen hätte.«


Johannes Münder war in Regensburg der »rote Jonny«. (Foto: Geier)

Der rote Jonny wird observiert

Gedämpfte Geigenklänge dringen ins Wohnzimmer in Berlin-Lankwitz. Münders Ehefrau spielt im oberen Stockwerk. Unten hat die Klassik-Sammlung die Jimi-Hendrix-Platten längst aus dem Regal verdrängt. Münder hat eine bürgerliche Karriere hingelegt: Lehrstuhlinhaber für Sozial- und Zivilrecht an der TU Berlin, Vorstandsvorsitzender von SOS-Kinderdorf, Bundesverdienstkreuzträger. Am Tag vor dem Gespräch hat er Angela Merkel getroffen. Dabei schien ihm seine Vergangenheit schon zum Verhängnis zu werden: In den frühen 70ern sorgten Bund und Länder mit dem Radikalenerlass dafür, dass auffällig linksorientierten Zeitgenossen durch Berufsverbote eine Karriere im öffentlichen Dienst versagt blieb. Auch der rote Jonny war ins Visier des Verfassungsschutzes geraten: Münder wurde observiert, mit Anzeigen wie Hausfriedensbruch oder Nötigung überzogen und von einer juristischen Beamtenlaufbahn ferngehalten. Der Grund: seine »politischen Umtriebe« im Regensburger Hochschulbetrieb. Für den Staat war der Kirchenratssohn ein Linksradikaler.

Wer die Pille braucht, muss zum AStA

»Es war ein sehr politisches Klima, der Mainstream war Aktivität, war Engagement«, sagt Münder und lehnt sich auf dem Sofa zurück. Die hölzerne Standuhr verkündet mit klarem Klang die volle Stunde. Münder ist damals Vorsitzender des Sozialistischen Hochschulbundes und das Gesicht der Regensburger SPD. In seiner politischen Orientierung ist er vor allem ein Kind seiner Zeit: Die Jugend rebelliert gegen verkrustete Strukturen in Gesellschaft und Politik, gegen konservative Autoritäten und rechtes Gedankengut. Die schrille Musik der 68er-Bewegung spielt in Frankfurt oder Berlin, wo Leute wie Rudi Dutschke die erste Geige spielen. In Regensburg ist die Bühne provinzieller, der Beat verspielter, aber der Gesang von ähnlicher Inbrunst und Bissigkeit.

An der Uni sind damals alle Immatrikulierten automatisch Teil der Verfassten Studentenschaft. Die Studierenden wählen ein Parlament, aus dem der eigentliche Hauptakteur des studentischen Kleinstaats hervorgeht – der Allgemeine Studentenausschuss, bekannt als AStA. Im Vergleich zum heutigen SprecherInnenrat hat dieses Kabinett vor allem einen entscheidenden Machtvorteil: die Finanzhoheit. Jeder Studierende überweist pro Semester etwa zwölf DM an den AStA, der mit dem Gesamtbudget kulturelle und politische Veranstaltungen organisiert oder einen Härtefonds für in Not geratene Studenten einrichtet.

Im studentischen Alltag ist der AStA ein Fixstern. 1960 kommt die Antibabypille auf den Markt. Studentinnen in Regensburg müssen zur Referentin für Soziales, die die Adresse von den zwei, drei Ärzten besitzt, die es wagen, in der stockkonservativen Stadt die Pille zu verschreiben. Münder, der eine Zeit lang als stellvertretender AStA-Chef amtierte, erinnert sich an die überraschten Gesichter der Studenten, die aus Berlin oder München stammten: »Das war topsecret, die Adressen wurden nicht mal den anderen AStAMitgliedern verraten.« Geheimnisverhütung im Regensburg der 60er.

Johannes Münder erzählt eine Anekdote über die familiäre Atmosphäre an der noch kleinen Universität Regensburg in den späten 60ern

Um das chronisch magere Budget zu füttern, lockt der AStA einmal mit Pornostreifen im Auditorium. Der Hörsaal platzt aus allen Nähten: Sex sells. »Das Thema war natürlich ein anderes, ‚Sexualität und Gewalt‘, hinterher große Diskussion darüber. Aber die meisten sind wegen der Pornofilme gekommen«, sagt Münder und muss grinsen. Für ihn gibt es hernach weniger zu lachen. Die Regensburger Woche titelt plakativ: »Pfarrerssohn zeigt Pornofilme«. Münder rennt ins Gericht, um das Erscheinen mit einer einstweiligen Anordnung zu verhindern.

»Autoritäre Säcke!«

Neben nackter Haut elektrisiert die jungen Leute auch der Umgang mit der Nazi-Vergangenheit. Münder hatte selbst einen Onkel, den er als »richtigen alten Nazi« bezeichnet. »Das waren autoritäre Säcke, zu diskutieren war aussichtslos. Meinen Bruder und mich hat er einmal rausgeschmissen, weil wir ihm widersprochen haben.« Eine repräsentative Meinungsumfrage aus dem Jahr 1968 führt die Bipolarität der deutschen Gesellschaft eindrucksvoll vor Augen: Noch immer die Hälfte der Bevölkerung ist damals der Ansicht, der Nationalsozialismus sei eine »an sich gute Idee« gewesen, die »nur schlecht ausgeführt« wurde. 91 Prozent der Studenten lehnen diese These dagegen entschieden ab.

Umso überraschender erscheint ein Vorfall, der sich an der Regensburger Uni im Juli 1969 ereignet. Die gemäßigte Gruppierung Demokratische Mitte hatte die AStA-Wahlen gewonnen, weil die Linken nicht kandidiert hatten. Auch die Mittelbayerische Zeitung interessierte sich damals für den ungewöhnlichen AStA und stellte die Studenten auf einem Bild vor. AStA-Chef Felix Bergenthal will die unterschiedlichen politischen Flügel an der Uni versöhnen. In einer politischen Veranstaltungsreihe sollen Vertreter aller Parteien zu Wort kommen. Als zum ersten Vortrag allerdings der NPD-Fraktionsvorsitzende Siegfried Pöhlmann eingeladen wird, rappelt es in der Kiste: »Das war für uns natürlich unvorstellbar. Wir haben sofort entschieden: Der wird hier nicht sprechen«, erzählt Münder.

Der gemäßigte AstA der Demokratischen Mitte stellt sich der Presse vor. Felix Bergenthal (3.v.l.) begeht noch in jungen Jahren Selbstmord. (Quelle: MZ vom 13. Juni 1969)

D ie Mittelbayerische Zeitung berichtet am nächsten Tag über den »Krawall einer offenbar recht weit links orientierten Minderheit der Saalinsassen«. Die Mehrheit der 600 Zuhörer habe für eine Diskussion votiert. »Ich hatte nicht den Eindruck, dass das so war«, sagt Münder, »aber ich kann mich auch irren.« Luftschlangen und Papierflieger segeln durch das Auditorium, als der NPD-Politiker spricht. Hohngelächter, als Pöhlmann Worte benutzt wie »Vergangenheitsbewältigungsneurose«. Der Rest geht in Sprechchören unter. Jemand schaltet das Licht aus. »Versteht ihr denn nicht, dass sich der Mann bei jedem Wort unsterblich blamiert«, ruft ein Student. Nach kurzer Zeit besetzen die Linken die Umgebung des Rednerpults und drängen Pöhlmann vom Mikrofon. Ein Foto, das in der Mittelbayerischen Zeitung erscheint, vermittelt einen Eindruck der hitzigen Situation. Die Veranstalter kapitulieren. Diskussion beendet.

Saalstürmer fetzen sich mit Saalschutz

Vor den Fenstern in Münders Haus fahren die elektrischen Rollläden herunter. Zeitschaltuhr. Im Wohnzimmer wird es dunkler. Der emeritierte Professor wirkt im Lampenlicht noch ein bisschen älter, gelassener. In seiner grauen Fleecejacke strahlt er heimelige Gemütlichkeit aus. Nur in seiner festen Stimme schwingen die Energie und der Wille mit, die den roten Jonny in Regensburg aufputschten. Drogen hat der Alt-68er nie gebraucht. Seine Tüte war die Verve, mit der er politisierte. Idealismus als Sinnstiftung: Felix Bergenthal, der mit seiner Politik der Demokratischen Mitte scheitert, begeht in jungen Jahren Selbstmord. Die hochschulpolitischen Streitereien hatten ihm zugesetzt, vielleicht haben sie ihn auch zermürbt.


Im Archiv der Uni Regensburg befindet sich dieser alte Streikaufruf des AStAs. (Foto: Geier)

In den späten 60ern tobt die Debatte um den neuen Hochschulgesetzentwurf. Der Plan sieht die Abschaffung der Verfassten Studentenschaft vor und soll die studentischen Mitbestimmungs- möglichkeiten begrenzen. Aus Protest beschließt die Vollversammlung, den Vorlesungsbetrieb zu bestreiken. Die Professoren Albrecht und Kraus führen ihre Lesungen fort und verweigern sich einer Diskussion über den Gesetzentwurf. Unter den Studenten gelten die konservativen Geschichtswissenschaftler als Ewiggestrige, ja sogar als »schwarz-braune Historiker-Mafia«.

Am 3. Juli 1969 kommt es zum Eklat. Als eine Gruppe linker Studenten um Münder die Vorlesung sprengen will, rasseln sie mit Albrechts Türstehern zusammen: hünenhafte, kräftige Burschen aus dem Bayerwald, die der Professor als Saalschutz positioniert hat. Münder erzählt die Geschichte, als berichte er über ein Kaffeekränzchen in der PT-Cafete: »Das waren nicht die kleinen, feinen Studentinnen vor der Tür. Das waren Schlägertrupps und die haben zugelangt.« Die Rangeleien liegen nicht jedem. Münder schon.

Ratzinger scheitert mit Versöhnung

I

m Tagesanzeiger ist ein paar Tage später ein Statement des roten Jonny zu lesen: »Wenn diese Leute Gewalt wollen, können sie sie haben«, wird er zitiert. »Wir werden jede weitere Vorlesung der Professoren Albrecht und Kraus in diesem Semester unmöglich machen!« Joseph Ratzinger, damals Theologie-Professor an der Uni, schaltet sich in den Konflikt ein, um zu schlichten. Er bringt die Parteien an einen Tisch. »Wir haben uns zu zwei, drei Gesprächen getroffen«, sagt Münder, »dann sind wir nicht mehr hingegangen. Es war wenig sinnvoll.« Nicht mal dem späteren Papst gelingt die Versöhnung.

Die Verfahren gegen Münder werden nach dem Amnestiegesetz eingestellt. Für die erste Anstellung musste er trotzdem lange kämpfen. Als der rote Jonny 1974 nach dem Examen Regensburg den Rücken kehrt, haben die Studenten den Kampf gegen das neue Hochschulgesetz verloren. 1973 schafft die bayerische Regierung die Verfasste Studentenschaft ab, um – so ätzte der damalige Kultusminister Hans Maier – »den linken Sumpf an den Universitäten trockenzulegen«.

Münder ist überzeugt, dass eine Verfasste Studierendenschaft nur funktioniert, wenn der Großteil der Studenten aktiv und engagiert ist. Damals war das der Fall: »Der AStA konnte sich bei uns auf einen großen Rückhalt verlassen. Interesse und Wahlbeteiligung waren hoch. Der Zeitgeist hat die Jugend politisiert, sensibilisiert«, sagt Münder. Zu den Vollversammlungen kommt mitunter nahezu die Hälfte der damals etwa 2 000 Studierenden.

40 Jahre danach

Die Debatte um eine Wiedereinführung der Verfassten Studierendenschaft (VS) ist nie verstummt. Die Lautschrift hat zwei hochschulpolitisch engagierte Studenten nach ihrer Meinung gefragt.

Stefan Christoph, 25, studiert im Master Demokratiewissenschaften und Jura und ist für die Bunte Liste in der Hochschulpolitik aktiv. Er möchte, dass in Bayern wieder eine Verfasste Studierendenschaft eingeführt wird.

»Bayern ist das letzte Bundesland, in dem die Handlungen der Studierendenvertretung abhängig von Universitätsverwaltung und Wissenschaftsministerium sind. Eine unabhängige Vertretung der Interessen der Studierenden wird so sehr erschwert. In anderen Ländern ist es nicht nur möglich, dass der AStA Serviceangebote einrichtet und mit eigenen Mitteln die Kultur am Campus fördert, sondern insbesondere, dass Studierende bei Schwierigkeiten mit Dozierenden oder der Verwaltung Rechtsberatung oder eine gerichtliche Vertretung erhalten können. Aufgrund der mangelnden Satzungsund Finanzhoheit sind solche Dinge im Freistaat nicht möglich. Partizipation und Selbstverwaltung sind Grundlagen unserer Demokratie. Wer in eine Stadt zieht, darf ganz selbstverständlich die dortige Politik mitbestimmen. Dieses demokratische Prinzip fordern wir auch an der Universität: Wer durch Einschreibung Teil der Universität wird, soll auch an der Selbstverwaltung der studentischen Angelegenheiten mitbestimmen können.«

Siegfried Nürnberg, 23, ist für den RCDS in der Hochschulpolitik aktiv. Er studiert im Master Demokratiewissenschaften. Eine Wiedereinführung der Verfassten Studierendenschaft in Bayern lehnt er ab.

»Im Regelfall ist die VS mit einer Zwangsmitgliedschaft verbunden. Jeder Student hat pro Semester einen festen Beitrag (etwa 15 Euro) zu bezahlen. Die Verwendung dieser Mittel ist oft nicht im Sinne der Studenten (Uni Münster: Besuch im Sexshop) und der Missbrauch der Gelder kann nur schwer verhindert werden. Zu den Aufgabenbereichen einer VS gehören Studentensport, Semesterticket und Beratungsangebote. Dies wird in Bayern von den Unis und Studentenwerken übernommen, die dafür qualifizierte Fachkräfte bezahlen. Dass durch die Einführung der VS die demokratische Partizipation steigt ist ein Irrglaube: Die Wahlbeteiligung an Unis mit VS ist so niedrig wie in Regensburg. Eine VS würde hier auch nur die »Legitimation« von lediglich fünf Prozent der Studenten haben. Kritisch zu sehen ist auch das allgemeinpolitische Mandat. Anstatt Hochschulpolitik zu betreiben, polemisieren die Asten im Namen der Studenten im politischen Raum und vernachlässigen ihre Pflichten gegenüber den Studenten vor Ort.«

Auf der Couch neben Münder liegt sein iPad. Die Zeit hat ihn nicht überholt. Münder reflektiert heute ohne zu verklären. Zu intolerant sei man bisweilen gewesen, räumt er ein. »Ich habe später nie eine klammheimliche Freude empfunden, als etwa die RAF Gewalt angewendet hat. Aber ich kann mich auch nicht erinnern, dass ich die Gewaltakte wortmächtig als Sauerei verurteilt hätte«, sagte er vor ein paar Jahren der MZ.

Das laute Klingeln der Standuhr holt die Gegenwart zurück ins Wohnzimmer.Das Geigenspiel ist längst verstummt. Draußen überrascht die Helligkeit hinter den geschlossenen Jalousien. Auf dem schmalen Steinplattenweg, der zum Gartentor führt, ist der Regen schon getrocknet. Ein Graffiti prangt auf dem Stromkasten an der Straßenseite. Revoluzzer in Berlin-Lankwitz. •

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Teil 1: Wer hat Angst vorm roten Mann?

Recherche und Text: Moritz Geier
Umsetzung: Katharina Brunner
Der Text erschien zum ersten Mal im Juli 2013 in der »Grenzen«-Ausgabe.