Wer hat Angst vorm roten Mann?

Die Kinderjahre der Universität Regensburg fallen in eine Zeit des Aufruhrs. Überall in Deutschland werden in den späten 60er Jahren die Hochschulen zu Hochburgen einer liberalen Protestbewegung. Linke Intellektuelle fordern die konservativen Autoritäten heraus:
Es gibt Kämpfe, Hoffnungen und Enttäuschungen.

Auch in Regensburg.

Eine Zeitreise.

Auch in den großen deutschen Printmedien waren Fotos von Gustav Obermair ein Hingucker: Der junge Physikprofessor galt als Exot unter den Universitätsrektoren. (Quelle: Foto von Digne Meller Marcovicz in der ZEIT vom 12. November 1971)

T urbulente Schauspiele toben auf der Weltbühne: In Vietnam führt die Tet-Offensive der Vietcong der Weltöffentlichkeit die Sinnlosigkeit des amerikanischen Kriegseinsatzes vor Augen. Martin Luther King erliegt in den USA einem Mordanschlag. Auch der Bürgerrechtler Robert Kennedy wird erschossen. Die Sowjetunion knüppelt derweil den Prager Frühling nieder und läutet ihren eigenen Todeskampf ein. In Biafra fordert der nigerianische Bürgerkrieg Millionen Opfer.

Hauptdarsteller im deutschen Theater – und nicht nur hier – sind die Studenten: Nach den tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg explodiert die Studentenbewegung. In Berlin wird der Studentenführer Rudi Dutschke durch ein Attentat lebensgefährlich verletzt. Bei einem Kaufhaus-Brandanschlag in Frankfurt tauchen erstmals die Namen der späteren RAF-Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin auf. Es ist 1968.


Die Grundsteinlegung des Sammelgebäudes durch den Gründungsrektor der Uni, Götz Freiherr von Pölnitz.
Quelle: Universitätsarchiv (Urheber trotz intensiver Recherche nicht auffindbar)

Auf einer kleinen Nebenbühne gibt es just in dieser Zeit eine Uraufführung zu bestaunen: Im Wintersemester 1967/68 nimmt die neugegründete Regensburger Universität den Studienbetrieb auf. Das Vorspiel wurde verpatzt: Gründungsrektor Götz Freiherr von Pölnitz war in den Verdacht geraten, ein Ex-Nazi zu sein. Seine braunen Bekenntnisschriften werden ihm aber erst zum Verhängnis, als das Kultusministerium auch über seine Überforderung im Amt nicht mehr hinwegsehen kann: Pölnitz wird 1965 zum Rücktritt gedrängt. Abseits der politischen Bühne erkunden die ersten Studenten die frisch betonierte Campus-Baustelle.

Eginhard König ist ein Kind der ersten Stunde. Er sitzt im Café Drei Mohren, nippt an seinem Weißbier und grinst schelmisch hinter dem grauen Vollbart. »Die Bedingungen in Regensburg waren einmalig«, sagt er heute, 44 Jahre später. Königs Matrikelnummer ist dreistellig: 843. Zum Sommersemester 1968 wechselt er von der Münchner LMU an die brandneue Uni in Regensburg. »Die Professoren sind dir nachgelaufen, du wurdest hofiert. Ein Professor hat mir gesagt, ›Wissen Sie, mein laufendes Seminar hat zwei Teilnehmer, wir machen das zuhause bei mir im Wohnzimmer bei einem Glas Rotwein‹.« Als König seine Zulassungsarbeit schreibt, steht ihm die Bibliothek alleine zur Verfügung. In Regensburg studiert der heute 69-jährige pensionierte Gymnasiallehrer in einer Epoche des Umbruchs.

Der französische Philosoph Jean Paul Sartre, ein Idol der 68er-Bewegung, hat einmal gesagt, nur über das »Infragestellen« könne man Mensch werden. Für eine ganze Generation wird dieses Credo plötzlich zur Lebensideologie. Sie hinterfragt und begehrt auf. Weltweit kritisieren verschiedene Jugend- und Protestbewegungen die vorherrschenden Verhältnisse und rebellieren – ob gegen den Vietnamkrieg, die Wohlstandsgesellschaft oder engstirnige Gleichförmigkeit. Kein Stein soll auf dem anderen bleiben. Utopien von einer besseren Welt mobilisieren.

Liebevoller Verbalradikalismus: Die 68er in Regensburg

In Deutschland schnappt die Jugend nach Luft, weil sie in einem geistig-kulturellen Klima erstickt, das in repressiver Moralität und apolitischer Biedermeierlichkeit verstaubt. »Die 50er waren so unglaublich verbohrt«, sagt König, »wir hatten die rigide Sexualmoral und die kirchlich-konservativen Einstellungen satt.« Seine Generation ist neugierig – und zerrt am selbstangelegten Maulkorb der Nachkriegsgesellschaft. Die vergrabene, verschwiegene Geschichte schwankt plötzlich als Damoklesschwert über der Vätergeneration. »Wir waren scharf drauf, zu erfahren, was los war in der Nazizeit. Unsere Geschichtslehrer haben sich geweigert, das zu behandeln. Wir hätten ja vielleicht unangenehme Fragen gestellt«, erzählt König.

An den Hochschulen kulminiert die Protestbewegung. Der Generationskonflikt entlädt sich auch hier, weil veraltete Universitätsstrukturen und sakrosankte Professoren mit dem Veränderungsdrang und linksliberalen Forderungen nicht klarkommen. Studenten sprechen sich noch mit »Herr Kommilitone« oder »Frau Kommilitonin« an.

Eginhard König schildert seine ersten Eindrücke von der neuen Regensburger Uni

Im Café unterhält sich König jetzt mit der Bedienung im Hintergrund. Der Mann ist ein Erzähler, gutgelaunt, gesellig. Nach einer Anekdote bricht er in ein ansteckendes Lachen aus. »Die Professoren waren Halbgötter und wir, ja mei, wir warn schon frech, wir haben’s halt aweng g’ärgert«, sagt er in seinem bairischen Dialekt. Einem Germanistik-Professor huldigen die Regensburger Studenten in einer satirischen Zeremonie: Weißgekleidete Ehrenjungfrauen streuen Blumen, eine Jubelgruppe preist den völlig überforderten Ordinarius. »Ein wunderbarer Schabernack. Eher auf eine solche liebevolle, lustige, kreative Art ist die Protestbewegung bei uns abgelaufen«, erzählt er, »es gab einigen Verbalradikalismus, ein Sprücheklopfen, aber ansonsten war das eher schnuckelig.«

»Des loss ma uns ned gfoin, ge!«

Die 68er in Regensburg bezeichnet König als »Miniatur-Studentenbewegung«. Seine Augen blitzen, als ein Gedanke ihn zum Schmunzeln bringt: »Hier war alles provinzieller, aber sympathisch – da waren halt bei den Linken auch die Bayerwald-Büffel dabei: ›Des loss ma uns ned gfoin, ge!‹« Was sich die Studenten nicht gefallen lassen, tragen sie auf die Straße. Im verschlafenen Regensburg erregen die Demonstrationen der jungen Leute anfangs noch großes Aufsehen, erinnert sich König. »Jetzt fanga die bei uns a scho o«, jammert ein Wachtmeister, als bei ihm eine Demo angemeldet wird. Eine Solidaritätskundgebung für Martin Luther King nach dessen Tod geht als eine der ersten Großdemos in die Stadtgeschichte ein, es folgen Proteste gegen die Notstandsgesetze und – die Gegenwart lässt grüßen – Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr. Bei einer Demo gegen den damaligen Entwurf des Bayerischen Hochschulgesetzes taucht König selbst in der Tagespresse auf: Ein Bild in der Mittelbayerischen Zeitung zeigt ihn als einen der marschierenden Demonstranten.

Regensburger Studenten demonstrieren gegen einen neuen Hochschulgesetzentwurf. Dritter von rechts vorne: Eginhard König. (Quelle: Bild von Berger, erschienen in der MZ)

K önig gehört zu einer Generation, deren Demokratiebewusstsein weit über dem gesellschaftlichen Durchschnitt liegt. Von einer einheitlichen Studentenbewegung zu sprechen sei aber nicht möglich, sagt er.


Studentenzeitungen der 70er aus einem Nachlass, der der Universitäts-
bibliothek gehört / Fotos: Geier
»Es gab einen harten Kern von Theoretikern, Organisatoren, Rednern und dann noch eine Sympathisantenszene mit abnehmendem Begeisterungsgrad bis hin zu den Mitläufern.« Um 1970 verschwindet der gemeinsame Nenner der Protestbewegungen aufgrund unterschiedlicher Zielvorstellungen: Die Linksgruppen zersplittern in etliche Kleinparteien, darunter maoistische, kommunistische oder trotzkistische Stränge. König ordnet sich den »freischwebenden Linken« zu. Aus der Fraktionierung schießt auch eine Wurzel in den Untergrund, die mit ihrer immer extremeren Systemkritik schließlich in Form des terroristischen Kampfes der RAF aus dem Boden bricht. Regensburg bleibt von solchen radikalen Irrungen verschont.

Nicht für alle Studenten spielt die 68er-Bewegung eine bedeutende Rolle. Es gibt auch die, die das Aufbegehren der Linken kritisch sehen – oder jene, an denen die Protestbewegung vorbeigeht. »Mich hat das alles nicht sonderlich interessiert«, sagt etwa Maximilian Raab, der in den frühen 70er Jahren in Regensburg Jura studiert. Raab bestellt im Café Moritz einen Latte macchiato und blickt aufmerksam durch seine randlosen Brillengläser. »Ich komme aus der Passauer Gegend, einem sehr konservativ ausgerichteten Gymnasium mit reicher Tradition und dicken Mauern, an der die Sturm-und-Drang-Zeit der 68er vorbeigegangen ist.« So geprägt wechselt Raab an die Regensburger Uni und staunt ob der Meinungsvielfalt: »Das ganze Hinterfragen von Autoritäten, Institutionen und Werten – das war für mich ein bisschen ungewöhnlich.«

Von der schwarzen Festung zur roten Insel

Mittlerweile machen sich an den Hochschulen die Einflüsse eines systemkritischen, teilweise marxistischen Denkens bemerkbar. Auch in Regensburg, wo es bisher noch keine Primärtugend ist, das Althergebrachte in Frage zu stellen: Nach dem Pölnitz-Eklat entpuppt sich auch dessen Nachfolger nicht gerade als toleranter Reformator. Rektor Franz Mayer beharrt darauf, als »Magnifizenz« angesprochen zu werden. Von ihm kursiert die Aussage, Freimaurer, Liberale und Sozialdemokraten hätten an seiner Uni nichts zu suchen. Die Assistenten bezeichnet er als »Gesindel«, das Verwaltungspersonal als »Gesinde«. Der Uni Regensburg haftet alsbald der Ruf einer tiefschwarzen Festung an.

Bis zu jenem Sommertag im Juni des Jahres 1971, als ein Paukenschlag die bayerische Politik-Idylle erschüttert. Im Universitätsarchiv befinden sich heute noch Dokumente, die einen Hauch des damaligen Zeitgeistes zu vermitteln vermögen, darunter mit der Schreibmaschine verfasste Flugblätter der Allgemeinen Studentenausschüsse oder ausgeschnittene Zeitungsartikel. Anfang der 70er überschlagen sich die Ereignisse. »Marx im Bayerischen Wald«, titelt die ZEIT 1971, die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) orakelt von einer Linksdrift an der Uni Regensburg und der Bayernkurier, das CSU-Hausblatt, befürchtet gar die »Umfunktionierung der UR in eine sozialistische Kaderschule«. Gustav Max Obermair, 36, ein linker Physik-Professor, war zum Rektor gewählt worden.

Der Reihe nach: Rektor Mayer hatte das Gesindel vergrault, ihm folgt 1968 der gemäßigte Professor Karl-Heinz Pollok als Unileiter, ein Mann der Mitte, dem es gelingt, ein labiles Gleichgewicht zwischen dem linken und rechten Flügel der Universität zu halten. Seine Amtszeit beschert Regensburg eine revolutionäre Änderung der Universitätsverfassung, die ein so progressives Mitbestimmungsmodell hervorbringt, dass sie in die bayerische Geschichte eingeht. Durch die sogenannte Viertelparität kommen in den maßgeblichen Gremien auf je zwei Professoren ein Assistent und ein Student. Das System mache die Universität zur am stärksten linksgefährdeten Uni im ganzen Bundesland, schreibt 1971 die FAZ.

In Regensburg beginnt jetzt eine Ära, in der die Studentenzeitungen Namen tragen wie Audimarx, Roter Schrittmacher oder Der Literot. Hochschulgruppen wie der MSB Spartakus publizieren eine Flut an politischen Schriften und Pamphleten. In der Unibibliothek kann man sich heute noch Exemplare solcher roten Blätter anschauen. Die linksliberale Fraktion an der Uni macht mit dem Plan von sich Reden, sozialwissenschaftliche Grundkurse für alle Lehramtsstudenten einzuführen.

In Seminaren wie Politische Ökonomie oder Sozialisation sollen auch marxistische Theoriekonzepte diskutiert werden. König gefällt die Idee: »Das war im Grunde genommen ein Studium generale, gesellschaftswissenschaftliche Kenntnisse hätten auch den Lehrern nicht geschadet. Vom Inhalt waren die gar nicht so fürchterlich; was abschreckend wirkte, waren die Etiketten, die ihnen aufgeprägt wurden.« Nicht-Linke sehen das anders: Es gibt Stimmen, die von einer »Gefahr der Indoktrinierung« sprechen, andere tun das Vorhaben als »idiotischen Unsinn« ab und lassen die Debatte links liegen. Der Plan scheitert.

Und wenn er aber kommt?

Kein Plan steht hinter Obermairs Abstimmungserfolg: An jenem Junitag 1971 ist die Wiederwahl Polloks eigentlich beschlossene Sache. Viele Professoren erscheinen gar nicht zum Urnengang, zumal es einen Gegenkandidaten überhaupt nicht gibt – bis sich nach langem Suchen Obermair aufstellen lässt, um der Prozedur eine demokratische Note zu verleihen. Am nächsten Tag die faustdicke Überraschung: Obermair wird mit einer Stimme Mehrheit zum neuen Rektor gewählt! Der Bayernkurier glaubt einen »von roter Hand vorbereiteten Coup« zu erkennen und prophezeit einen beispiellosen Zulauf radikaler Studenten nach Regensburg. Obermair polarisiert. Seinen Rauschebart trägt er im Karl-Marx-Stil, auch für überregionale Medien scheint seine unkonventionelle Erscheinung ein beliebtes Fotomotiv zu sein. Die FAZ schreibt über ihn, ihm gefalle es, sich in seinem äußeren Habitus demjenigen der meisten Studenten anzupassen. Zu Hause schleichen seine zwei Kater um das alte Bauernhaus. Der eine heißt Marx, der andere Lenin. Erst kurz vor der Wahl war Obermair von einem dreijährigen Aufenthalt in den USA zurückgekehrt, wo er sich auch für die Bürgerrechte der Afroamerikaner einsetzte (siehe Kurzinterview).


Interview mit Gustav Max Obermair

»Von Jimi Hendrix konnten sie nichts wissen«

Die Lautschrift hat Gustav Max Obermair (78), Rektor der Regensburger Uni 1971-73, in Swakopmund, Namibia, erreicht, wo der emeritierte Professor heute mit seiner Frau lebt. Ein Kurzinterview über Kämpfe zwischen links und rechts und die Folgen einer zu revolutionären Fortschrittlichkeit.

Lautschrift: Die Zeitungen haben zu Ihrem Amtsantritt teilweise den (linken) Teufel an die Wand gemalt und einen radikalen Linksruck befürchtet. Von einer »Bolschewisierung« der UR war gar die Rede. Welche linkspolitischen Standpunkte hatten Sie damals, die das ausgelöst haben?

Obermair: Die »Bolschewisierung« bestand darin, dass die Hochschul-Linke die seit den 50er Jahren immer weiter vordringende Herrschaft der Kapitalinteressen in Gesellschaft und Wissenschaft nun offen und mit guten Argumenten angriff; die nur ihren kleinen Acker bebauenden, aller Politik abholden »bürgerlichen« Professoren verstanden gar nicht, worum es da angeblich ging, und die Pressefreiheit bedeutete wieder, wie das Tucholsky schon 50 Jahre früher festgestellt hatte, die Freiheit reicher Leute, ihre Meinung drucken zu lassen. Wie berechtigt diese Kritik gerade in Bezug auf die Wissenschaft war, zeigt sich heute verstärkt, wenn etwa ein Pharmakonzern die gesamte einschlägige Forschung einer großen Universität wie in Köln beherrschen kann, natürlich nur zum Besten der Menschheit – in den reichen Ländern!

Lautschrift: In einem Bayernkurier-Artikel befindet sich auch ein Bild von Ihnen in Ihrem Arbeitszimmer; die Bildzeile erwähnt ein Plakat im Hintergrund, das einen Black-Panther-Führer zeige. Sie wussten sicherlich, wie das erzkonservative CSU-Blatt so etwas aufnehmen würde. Wollten Sie die konservative Seite der damaligen Zeit durch eine gewisse provokante Selbstinszenierung auch bewusst herausfordern?

Obermair: Der Bayernkurier irrte sich wie so oft: Das weltberühmte Plakat in meinem Arbeitszimmer zeigte nicht einen Black-Panther-Führer, sondern Jimi Hendrix – von diesem früh verglühten Weltstern konnte man natürlich im Hofbräuhaus nichts wissen. Und natürlich war die schwarze Rockmusik eine Provokation, in den USA auch eng verbunden mit der Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner; für diese Bewegung hatte ich mich in den USA eingesetzt, bis hin zu einer kurzzeitigen Verhaftung 1969 wegen Unterstützung eines für illegal erklärten Streiks schwarzer Krankenhausarbeiter gegen ihre Hungerlöhne.

Lautschrift: Das Regensburger Mitbestimmungsmodell, das Ihre Wahl ermöglicht hat, war damals in Bayern einzigartig – und ist es bis heute. Seit der Reform des Hochschulgesetzes 1973 hat das studentische Wort kaum noch Gewicht. Die ZEIT schreibt 1971, die Wahl Obermairs sei für die reaktionären Kräfte der willkommene Anlass gewesen, dem Kultusminister den »Verfall« der Universität vor Augen zu führen und die studentische Mitbestimmung radikal einzuschränken. War das Regensburger Modell vielleicht zu liberal für die Zeit und Ihre Wahl zu progressiv?

Obermair: Da hatte die ZEIT 1971 leider ganz recht: Unter Federführung des Bundes Freiheit der Wissenschaft (politisch konservativer Verein, der 1970 als Antwort auf die Studentenbewegung gegründet wurde, um den eingeleiteten Hochschulreformen entgegenzuwirken; Anm. d. Red.) wurde die offenbar brandgefährliche Mitwirkung von erwachsenen Studierenden am Inhalt ihrer Arbeit weitgehend abgeschafft. Ein Fürst Lobkowitz, damals Rektor in München, sagte einmal sehr treffend: »Gewisse Artikel im Bayerischen Hochschulgesetz kann man nur verstehen, wenn man weiß, dass in Regensburg einmal Obermair zum Rektor gewählt wurde.«


Obermair auf dem erwähnten Bild von Horst Hanske im Bayernkurier vom 26. Juni 1971 (Quelle: Zeitungsausschnitt gefunden im Uniarchiv, SL Benz/AStA, ZAS 1)

Wenn Obermair, den die Lautschrift in Namibia kontaktiert hat, heute auf seine Amtszeit zurückblickt, fällt sein Fazit ernüchternd aus. Der Rektor sei letztlich nur eine Art Symbolfigur mit äußerst beschränkter Handlungsfreiheit zwischen Ministerium und konservativem Professorenflügel, sagt er. »In diesem Umfeld habe ich vielleicht bestenfalls erreicht, dass ein etwas weniger autoritärer Stil und Umgang eine Zeit lang üblich wurde, dass auch ein non habilitatus als homo anerkannt wurde und eine Politische Ökonomie mit marxistischen Theoriekonzepten zumindest hochschulöffentlich diskutierbar wurde.«

In prall gefüllten Hörsälen liefert sich der Jungrektor Redeschlachten mit konservativen Professoren oder dem Kultusminister. »Ich habe ihn bei einem Duell mit dem Geschichtsprofessor Lippold gesehen. Der hat keinen Stich gemacht, Gustav war rhetorisch unglaublich brillant«, sagt König. In den Debatten geht es laut Obermair vor allem um »den seit Beginn der Industrialisierung virulenten Gegensatz von Kapital und Arbeit und darum, wie weit dieser fundamentale Konflikt in seinen neuen Erscheinungsformen auch von der Wissenschaft in Deutschland wieder – wie vor 1933 – diskutiert werden müsste«. Dass die Uni in eine extrem linke Richtung rutschte, wie die Zeitungen unkten, findet König »einen Schmarrn«. Ihr sei höchstens das Etikett aufgeprägt worden, ohne dass es dafür einen realen Hintergrund gegeben habe. König ist noch mit Obermair befreundet. »Er war halt ein linksliberaler Sozialdemokrat«, sagt er – und das sei schon zu rot für Schwarz gewesen.

Das Foto aus der Mittelbayerischen Zeitung zeigt: Die Rededuelle zwischen Rektor Gustav Obermair und seinen konservativen Kontrahenten (hier Kultusminister Hans Maier) locken Studenten in Massen in die Hörsäle. (Quelle: Bild in der MZ, erschienen 15. Juli 1990)

U nter den Studierenden gehen die Meinungen über den Rektor weit auseinander. Manche verorten Obermair »extrem links«, andere sehen in ihm vor allem einen Paradiesvogel: »Mit seiner Barttracht, seinen Jeans hat er so gar nicht dem Bild eines Professors entsprochen«, erzählt Raab. »Ich habe im Rahmen meines Studiums Professor Mayer kennengelernt, den früheren Rektor, der natürlich dem Weltbild gerecht wurde, das ich gewohnt war: Da war wieder die Autorität, die so aufgetreten ist, so gekleidet war, wie man sich einen Professor vorgestellt hat«. Der heute 63-jährige Raab glaubt nicht, dass das Aufsehen, das Obermair erregte, auf mögliche extrem marxistische oder gar radikale Tendenzen zurückging. »Jeder, der ein bisschen aus der Reihe gedacht hat, ist damals stark aufgefallen. Obermair war einer, der Institutionen hinterfragt und unbequeme Fragen gestellt hat: Das war einfach außergewöhnlich.« Sicherlich habe der Ex-Rektor anecken, auch provozieren wollen – »aber nicht bösartig«. Heute, so glaubt Raab, würde Obermair nicht mehr auffallen. Ein Querdenker also, der seiner Zeit weit voraus war?

Das »rote Regensburg« wird totgeschwiegen

1973 enden Obermairs Rektorjahre, das neue Bayerische Hochschulgesetz pulverisiert in ebenjenem Jahr das progressive Regensburger Mitbestimmungsmodell. »Die Gunst der Stunde war vorbei«, meint Obermair heute im Rückblick, schon bei seiner Wahl hatte er befürchtet, dass sie »der letzte progressive Akt für lange Zeit« bleiben würde. Bis 2002 lehrt Obermair als Professor für Theoretische Physik an der Uni Regensburg. Heute scheint sich an das »rote Regensburg« und Obermairs Amtszeit keiner mehr erinnern zu wollen. In der Chronik der Uni im Vorlesungsverzeichnis werden nach 1973 über viele Jahre hinweg weder die Reformsatzung noch die Studentenbewegung in Regensburg noch sein Name erwähnt, erzählt er selbst. Er ist überzeugt, dass die Zeit bewusst verschwiegen wurde. »Weil nicht sein kann, was nicht sein darf! Sehr wichtig ist das nach 40 Jahren nun wirklich nicht mehr, aber doch bezeichnend für die Epoche.«

Auf der Uni-Homepage kann man eine Liste aller bisherigen Rektoren und Präsidenten finden. Alle sind dort mit Bildern aufgeführt. Nur bei Gustav Obermair fehlt das Konterfei. •


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Recherche und Text: Moritz Geier
Umsetzung: Katharina Brunner
Teil 2: Es rappelt in der grauen Kiste

Der Text erschien zum ersten Mal im Januar 2013 in der »Unter Druck«-Ausgabe.