T urbulente Schauspiele toben auf der Weltbühne: In Vietnam führt die Tet-Offensive der Vietcong der Weltöffentlichkeit die Sinnlosigkeit des amerikanischen Kriegseinsatzes vor Augen. Martin Luther King erliegt in den USA einem Mordanschlag. Auch der Bürgerrechtler Robert Kennedy wird erschossen. Die Sowjetunion knüppelt derweil den Prager Frühling nieder und läutet ihren eigenen Todeskampf ein. In Biafra fordert der nigerianische Bürgerkrieg Millionen Opfer.
Hauptdarsteller im deutschen Theater – und nicht nur hier – sind die Studenten: Nach den tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg explodiert die Studentenbewegung. In Berlin wird der Studentenführer Rudi Dutschke durch ein Attentat lebensgefährlich verletzt. Bei einem Kaufhaus-Brandanschlag in Frankfurt tauchen erstmals die Namen der späteren RAF-Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin auf. Es ist 1968.
Auf einer kleinen Nebenbühne gibt es just in dieser Zeit eine Uraufführung zu bestaunen: Im Wintersemester 1967/68 nimmt die neugegründete Regensburger Universität den Studienbetrieb auf. Das Vorspiel wurde verpatzt: Gründungsrektor Götz Freiherr von Pölnitz war in den Verdacht geraten, ein Ex-Nazi zu sein. Seine braunen Bekenntnisschriften werden ihm aber erst zum Verhängnis, als das Kultusministerium auch über seine Überforderung im Amt nicht mehr hinwegsehen kann: Pölnitz wird 1965 zum Rücktritt gedrängt. Abseits der politischen Bühne erkunden die ersten Studenten die frisch betonierte Campus-Baustelle.
Eginhard König ist ein Kind der ersten Stunde. Er sitzt im Café Drei Mohren, nippt an seinem Weißbier und grinst schelmisch hinter dem grauen Vollbart. »Die Bedingungen in Regensburg waren einmalig«, sagt er heute, 44 Jahre später. Königs Matrikelnummer ist dreistellig: 843. Zum Sommersemester 1968 wechselt er von der Münchner LMU an die brandneue Uni in Regensburg. »Die Professoren sind dir nachgelaufen, du wurdest hofiert. Ein Professor hat mir gesagt, ›Wissen Sie, mein laufendes Seminar hat zwei Teilnehmer, wir machen das zuhause bei mir im Wohnzimmer bei einem Glas Rotwein‹.« Als König seine Zulassungsarbeit schreibt, steht ihm die Bibliothek alleine zur Verfügung. In Regensburg studiert der heute 69-jährige pensionierte Gymnasiallehrer in einer Epoche des Umbruchs.
Der französische Philosoph Jean Paul Sartre, ein Idol der 68er-Bewegung, hat einmal gesagt, nur über das »Infragestellen« könne man Mensch werden. Für eine ganze Generation wird dieses Credo plötzlich zur Lebensideologie. Sie hinterfragt und begehrt auf. Weltweit kritisieren verschiedene Jugend- und Protestbewegungen die vorherrschenden Verhältnisse und rebellieren – ob gegen den Vietnamkrieg, die Wohlstandsgesellschaft oder engstirnige Gleichförmigkeit. Kein Stein soll auf dem anderen bleiben. Utopien von einer besseren Welt mobilisieren.
Liebevoller Verbalradikalismus: Die 68er in Regensburg
In Deutschland schnappt die Jugend nach Luft, weil sie in einem geistig-kulturellen Klima erstickt, das in repressiver Moralität und apolitischer Biedermeierlichkeit verstaubt. »Die 50er waren so unglaublich verbohrt«, sagt König, »wir hatten die rigide Sexualmoral und die kirchlich-konservativen Einstellungen satt.« Seine Generation ist neugierig – und zerrt am selbstangelegten Maulkorb der Nachkriegsgesellschaft. Die vergrabene, verschwiegene Geschichte schwankt plötzlich als Damoklesschwert über der Vätergeneration. »Wir waren scharf drauf, zu erfahren, was los war in der Nazizeit. Unsere Geschichtslehrer haben sich geweigert, das zu behandeln. Wir hätten ja vielleicht unangenehme Fragen gestellt«, erzählt König.
An den Hochschulen kulminiert die Protestbewegung. Der Generationskonflikt entlädt sich auch hier, weil veraltete Universitätsstrukturen und sakrosankte Professoren mit dem Veränderungsdrang und linksliberalen Forderungen nicht klarkommen. Studenten sprechen sich noch mit »Herr Kommilitone« oder »Frau Kommilitonin« an.
Eginhard König schildert seine ersten Eindrücke von der neuen Regensburger Uni
Im Café unterhält sich König jetzt mit der Bedienung im Hintergrund. Der Mann ist ein Erzähler, gutgelaunt, gesellig. Nach einer Anekdote bricht er in ein ansteckendes Lachen aus. »Die Professoren waren Halbgötter und wir, ja mei, wir warn schon frech, wir haben’s halt aweng g’ärgert«, sagt er in seinem bairischen Dialekt. Einem Germanistik-Professor huldigen die Regensburger Studenten in einer satirischen Zeremonie: Weißgekleidete Ehrenjungfrauen streuen Blumen, eine Jubelgruppe preist den völlig überforderten Ordinarius. »Ein wunderbarer Schabernack. Eher auf eine solche liebevolle, lustige, kreative Art ist die Protestbewegung bei uns abgelaufen«, erzählt er, »es gab einigen Verbalradikalismus, ein Sprücheklopfen, aber ansonsten war das eher schnuckelig.«
»Des loss ma uns ned gfoin, ge!«
Die 68er in Regensburg bezeichnet König als »Miniatur-Studentenbewegung«. Seine Augen blitzen, als ein Gedanke ihn zum Schmunzeln bringt: »Hier war alles provinzieller, aber sympathisch – da waren halt bei den Linken auch die Bayerwald-Büffel dabei: ›Des loss ma uns ned gfoin, ge!‹« Was sich die Studenten nicht gefallen lassen, tragen sie auf die Straße. Im verschlafenen Regensburg erregen die Demonstrationen der jungen Leute anfangs noch großes Aufsehen, erinnert sich König. »Jetzt fanga die bei uns a scho o«, jammert ein Wachtmeister, als bei ihm eine Demo angemeldet wird. Eine Solidaritätskundgebung für Martin Luther King nach dessen Tod geht als eine der ersten Großdemos in die Stadtgeschichte ein, es folgen Proteste gegen die Notstandsgesetze und – die Gegenwart lässt grüßen – Fahrpreiserhöhungen im Nahverkehr. Bei einer Demo gegen den damaligen Entwurf des Bayerischen Hochschulgesetzes taucht König selbst in der Tagespresse auf: Ein Bild in der Mittelbayerischen Zeitung zeigt ihn als einen der marschierenden Demonstranten.